Was bitte ist Chiengora®?
Würdest du einen Pullover aus Chiengora®, also Hundewolle, tragen? Aus einem Garn, das sich vorher an dem treuen Vierbeiner deiner Nachbarin befand, zum Beispiel?
Falls eure erste Reaktion auf die Frage ein “Ih-bah, niemals!” war, glaube ich, dass dieser Artikel spannend für euch sein könnte. Falls euer erster Impuls “Aber die armen Tiere!” war, ebenfalls.
Chiengora ist ein eigens von YarnSustain entwickeltes Garn, das aus der ausgekämmten Unterwolle von langhaarigen Hunden gewonnen wird. Das ist der Flausch, der das Tier im Winter schön warm hält und beim Auskämmen als Fusselball auf dem Boden liegt. Sie hält bis zu 80% wärmer als Wolle und hat klimaregulierende Eigenschaften.
Chiengora ist eine Wortverschmelzung aus dem französischen chien für ‘Hund’ und Angora und kann unter anderem aus der Unterwolle von Huskys, Smojeden, Collies, Shelties und Australian Shepherds gewonnen werden – aber natürlich auch aus langhaarigen Mischlingen, wobei YarnSustain den Begriff zu vermeiden versucht und lieber von Melange spricht, wie mir Gründerin Ann Cathrin Schönrock in einer Videokonferenz erklärt. In dem alternativen Begriff schwingt eine ganz andere Anerkennung für das Tier und den Rohstoff, den es liefert, mit.
YarnSustain
YarnSustain ist das Start-up, das aus Hundewolle Chiengora® macht und im großen Stil in Deutschland bekannt machen und vor allem darauf aufmerksam machen möchte, dass hier eine wertvolle und ästhetische Ressource jedes Jahr tonnenweise ungenutzt weggeworfen wird: “Allein in Deutschland werden jährlich über 1900 Tonnen, in Europa jährlich über 8000 Tonnen, von dem Stoff weggeworfen. Das wollen wir ändern!”, sagt Ann Cathrin, die irgendwann die ausgekämmte Unterwolle des Hundes ihrer Mutter zur Spinnerei sandte, um ein Garn daraus spinnen zu lassen. Ihr Motto: “Es hat noch nie jemand probiert, deswegen klappt es bestimmt.” (Astrid Lindgren)
Ein Garn mit Geschichte
Die Technik, aus Hundehaaren Garn zu gewinnen ist, schon sehr alt: “Die ältesten Funde gibt es an der amerikanischen Westküste bei indigenen Gemeinschaften, die einen Wollhund gezüchtet und das Garn mit der Ziegenwolle gemischt versponnen haben. Irgendwann wurde es lukrativer und praktischer, nur noch die Bergziegen zu halten – dann ist die Produktion der Hundewolle zurückgegangen. Außerdem gibt es einige sibirische Völker, die Samojeden-Vöker beispielsweise, die den Stoff ebenfalls verwendet haben, weil er schlicht vorhanden war”, erklärt Franziska Uhl, Mitgründerin von YarnSustain.
Was die beiden Frauen nun machen, ist, den wertvollen Rohstoff, der in seiner Qualität mit Luxus-Fasern wie Mohair, Angora und Kaschmir zu vergleichen ist, vor der Mülltonne zu bewahren, indem sie ihn als hochwertiges Garn dem textilen Markt zugänglich machen. Dazu haben sie ein neues System der Rohstoff-Gewinnung über einen gemeinnützigen Verein (Rohstoffe retten – modus intarsia e.V. (i.G.)) etabliert, das es so vorher noch nicht gab (s. unten) und in langwieriger Forschungsarbeit ein angepasstes eigenes Spinnverfahren entwickelt, welches aus Hundefasern Chiengora® macht.
Warum hat man eigentlich irgendwann keine Textilien mehr aus Hundefasern hergestellt?
Franziska meint: “Das wurde ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht weitergeführt, weil der Hund ein sehr teures und aufwändiges Nutztier wäre, wenn man ihn zu diesem Zweck halten würde. Das würde sich nicht lohnen – daher ist die Hundewolle von der industrialisierten Gesellschaft nicht weiter verfolgt worden.” Ann Cathrin ergänzt: “Man kann Hunde nicht in Herden halten, wie man es mit anderen Woll-Lieferanten, wie Ziegen oder Schafen, machen kann. Das ist im kapitalistischen System nicht lukrativ genug.”
Hundefasern können also nur als Neben- oder Abfallprodukt weiterverwendet werden – alles andere würde sich schlicht nicht lohnen. Also muss man auch keine Angst vor Hundefarmen und Massentierhaltung von Australian Shepherds haben? “Wenn man damit schnell Geld machen könnte”, sagt Ann Cathrin, “hätte das schon lange jemand gemacht. Wir machen das aus dem Bedürfnis heraus, diese Ressource zu retten und ein Umdenken in der Textilindustrie anzustoßen.”
Woher kommen die Hundefasern?
Diese Ressource stammt vor allem aus Privathaushalten: Alle, die langhaarige Hunde pflegen (hier ist eine Übersicht, welche Rassen sich beispielsweise gut dafür eignen), können die ausgekämmte Unterwolle bei modus intarsia e.V. (I.G.) einsenden. Für jede Wolleinsendung spendet der Verein, die aus dem Verkauf entstehenden Erlöse, an Tierschutzprojekte – zum Beispiel an SOS Dogs Romania, aber auch Sea Shepherd oder den Tierschutzbund. So seien schon jetzt mehrere tausend Euro an Spenden zusammengekommen, erzählen die beiden.
Zudem setzt der Verein auch auf eigene Bildungsarbeit, um das Thema der Ressourcenrettung aufmerksam zu machen.
Einige Garne sind Mischgarne – zum Teil mit Alpaka oder Merino. Wie passt das mit dem Argument, kein Tierleid verursachen zu wollen, zusammen?
Wichtig sei zunächst, das Handstrickgarn von dem industriellen Garn zu unterscheiden: Aktuell bietet YarnSustain auf der eigenen Website Handstrickgarn an, das mit anderen tierischen Fasern, wie Alpaka oder Merino, gemischt ist. Die industrielle Faser, um die es langfristig geht, werde nur mit Lyocell vermischt und sei daher komplett tierleidfrei und “vegan-freundlich”.
Woher kommen nun die tierischen Fasern?
Franziska sagt: “Für unsere Alpaka-Wolle arbeiten wir mit 2 Alpaka-Höfen in Deutschland zusammen. Diese Wolle wird normalerweise ebenfalls weggeworfen. Gestern habe ich mit der Frau telefoniert, die uns für die Crowdfunding-Kampagne mit Alpaka-Wolle beliefert. Sie hat die Wolle die ganze Zeit auf dem Dachboden gelagert. Ich habe ihr im Prinzip die Wolle von den letzten 3 Jahren abgekauft – sie hält die Alpakas und die Tiere müssen ohnehin geschoren werden. Natürlich ist es aus veganer Perspektive fraglich, warum jemand Alpakas im Hof stehen haben muss. Dennoch ist die Wolle nun einmal in Deutschland vorhanden und wir kaufen sie den Leuten ab und nutzen sie. Die Merinowolle beziehen wir ebenfalls von deutschen Schäfer*innen. Deutsche Schurwolle wird aktuell fast immer verbrannt, weil sie normalerweise für die Textilherstellung zu grob ist. Deutsches Merino ist 5 Mal so grob wie das Merino, das man aus Neuseeland oder Australien bekommt und wird daher nicht oft in der Textilbranche verwendet.”
Ann Cathrin ergänzt: “Die Merinoschafe, von denen wir die Wolle verwenden, werden nicht für die Wollproduktion gehalten – sondern für die Landschaftspflege. Dafür, Rasen abzugrasen. Für die Landschaftspflege ist die Wolle ein Nebenprodukt, das nicht gebraucht und darum vernichtet wird.”
Wo und wie wird produziert?
Das oberste Prinzip von YarnSustain ist die niedrige Öko-Bilanz. Das bedeutet, dass Produktionswege so kurz wie möglich gehalten werden: Derzeit findet fast die gesamte Verarbeitung der Faser – vom Sammeln bis zum Spinnen – in Europa statt.
Das System funktioniert so:
- Die Wolle kommt (per direkter Sendung oder über Sammelstellen) in den Lagern von Rohstoffe retten – modus intarsia e.V. (i.Gr.) an.
- Dort wird sie tabellarisch erfasst und nach Qualität und Farbe (Handstrickgarn) sowie Faserlänge (Industriegarn) sortiert.
- Anschließend wird der Rohstoff in die Wäscherei gegeben. Dort wird die Wolle – im Gegensatz zur Wäsche der normalen Schafwolle, die sehr umweltschädlich und wasserintensiv ist – nur einmal eingeweicht und mit ökologischem Waschmittel durchgespült. Weil die Halter*innen die Hunde ohnehin gut pflegen, reicht das aus, um den Geruch aus dem Rohstoff herauszuwaschen. Anschließend wird die Wolle luftgetrocknet. Das alles passiert in einem kleinen Betrieb in Sachsen. “Ökologischer geht es kaum”, meint Franziska. Nach der Wäsche ist die Wolle auch von potenziellen Allergenen befreit, sodass auch Menschen, die eine Hundehaar- oder -speichel-Allergie haben, Textilien aus Chiengora tragen können. (Genauso, wie jemand, die*der gegen Ziegen allergisch ist, Kaschmir tragen kann. Das ist allerdings noch nicht wissenschaftlich, sondern bisher erst in Praxistests bestätigt.)
- Wenn sie gewaschen ist, kommt die Wolle entweder in die Handstrick- oder Industrie-Spinnerei. Für das Handstrick-Garn arbeiten die beiden Gründerinnen mit kleinen und regionalen Naturfasermühlen zusammen. Für jede Garn-Qualität gibt es eine separate Spinnerei, in der die Wolle verarbeitet wird – insgesamt sind es 4 Betriebe.
- Einzig für das Industriegarn muss YarnSustain auf Spinnereien in Frankreich und Großbritannien ausweichen – “weil die Kompetenz in Deutschland schlicht nicht mehr vorhanden ist.”
Es sei sehr schwierig gewesen, Spinnereien zu finden, die sich auf die Innovation Chiengora® einlassen wollten, erzählen Ann Cathrin und Franziska: “Die Suche war wirklich lang und wir haben wahrscheinlich mit jeder Spinnerei, die es in Deutschland noch gibt, telefoniert (und das sind nicht mehr viele). Wir haben fast nur Absagen bekommen, bevor wir die Menschen von uns überzeugen konnten.”
Die Priorität auf Fairness und kurze Lieferketten schlägt sich auch im Preis der Produkte nieder: “Wir zahlen einen fairen Preis für die Hundewolle und faire Löhne in der Produktion.”
Was ist mit den CO2-Emissionen?
Das Ziel von YarnSustain ist es, konventionelle tierische Materialien, die oft mit viel Tierleid verbunden sind und durch lange Transportwege eine sehr hohe CO2-Bilanz aufweisen, in großem Maßstab durch Chiengora zu ersetzen. Dadurch, dass die Hundewolle ein Rohstoff ist, der ohnehin anfällt und bisher weggeworfen wird, ergibt sich eine Start-CO2-Bilanz von 0. “Das unterscheidet unser Chiengora®-Garn massiv von Garnen wie Baumwolle oder Schafwolle”, erklärt Franziska. “Dazu kommt, dass unser Versand nur innerhalb Deutschlands und nicht aus China, Neuseeland oder Südafrika stattfindet.”
Lediglich die Logistik hinter dem Sammeln und Verarbeiten der Wolle verursacht also Emissionen – aber auch dort haben Franziska und Ann Cathrin ein strenges Auge auf mögliche Reduktion:
- Privatpersonen können die Wolle direkt an den Rohstoffe Retten – modus intarsia e.V. (i.Gr.) schicken.
- Aktuell arbeiten die beiden an einem Verpackungssystem, das die Verpackungsvolumina reduzieren und den anfallenden Müll praktisch auf 0 reduzieren soll – am Ende wird das System vermutlich ähnlich funktionieren wie das zirkuläre RePack-System: “Wir werden eine 100% recycelbare Hülle nutzen, die die Faser komprimiert und die immer wieder verwendet werden kann.”
- Parallel berechnet die TU Berlin für das junge Unternehmen die firmeninterne Ökobilanz, sodass bald Zahlen und konkrete Vorschläge für eine mögliche Reduktion vorliegen.
Es gebe natürlich viele Anfragen aus dem Ausland, erzählen die beiden: Die Ressource sei nun einmal da und der Bedarf, sie angemessen genutzt zu sehen, groß. Mittlerweile bietet der Verein modus intarsia daher auch Menschen aus den Nachbarländern an, die Wolle nach Deutschland zu senden. Größere Distanzen sollen dann aber möglichst nicht zurückgelegt werden, meint Ann Cathrin: “Wir würden keine Wolle aus Amerika annehmen, sondern eher dasselbe System, das wir gerade hier etablieren, noch einmal vor Ort aufsetzen, damit die Lieferwege kurz bleiben können. Die Ressourcen, die Kompetenz und die Spinnereien sind dort ebenfalls vorhanden – wir müssen die Ware nicht um die halbe Welt schiffen, nur, um unseren Profit zu maximieren.”
Das Ziel: eine Revolution in der Textilindustrie
Franziska und Ann Cathrin sind kürzlich auf Startnext mit ihrem Crowdfunding online gegangen – dort gibt es unter anderem Strickpakete mit Chiengora als Dankeschöns zu erwerben. In knappen verbleibenden 18 Tagen muss insgesamt eine Summe von 18.000€ gesammelt werden. Logischerweise wird das gebraucht, um das Projekt erfolgreich zu finanzieren – und damit die beiden Gründerinnen vielleicht auch irgendwann dem Traum näherkommen, sich selbst ein Gehalt auszahlen zu können (bisher ist das nämlich noch nicht der Fall).
Primär geht es aber um etwas anderes: Die beiden wollen nichts weniger als die Diversifizierung des Garn-Marktes. “Wir wollen Ressourcen verwerten, die übersehen werden und dem textilen Markt als Garn zugänglich machen. Auf dem Weg dorthin fangen wir mit der Ressource Chiengora an.” Das bedeutet, dass das Handstrick-Garn nur eine Zwischenstation ist – eine Möglichkeit der Finanzierung. Eigentlich geht es um das Industriegarn und darum, im großen Stil etwas in der Textilindustrie zu verändern. “Wir haben tatsächlich auch bereits erste Anfragen von Labels bekommen, die mit Chiengora arbeiten möchten”, erzählt Franziska. “Das wäre ein Traum von uns: dass man unser Material verwendet und damit Alpaka oder Kaschmir ersetzen kann.”
Wenn Chiengora als Ressource angenommen wird, sind auch andere bisher brachliegende Felder denkbar, zum Beispiel Katzenwolle oder auch ein Garn aus der Unterwolle von bestimmten Pferde-Rassen. “Am Ende des Tages geht es darum, wo wir die Ressourcen vor der Haustür haben, die wir nehmen können, um damit Dinge zu substituieren, die derzeit von weither importiert werden. Das wollen wir so regional wie möglich machen.” Das geht aber nur mit entsprechender Vorbereitung: Bis Chiengora soweit war, als hochqualitatives Industriegarn verarbeitet werden zu können, waren 2 Jahre intensive Forschung nötig – und diese Forschungsarbeit, sagen die beiden Gründerinnen, sei “wahnsinnig teuer und zeitintensiv”.
Alles stehe und falle allerdings mit der Kund*innen-Akzeptanz, betonen die beiden: Das Crowdfunding ist ein Test, ob die Menschen bereit sind für Chiengora als Garnalternative. “Mit dem Beweis können wir dann zu den Mode-Labels und größeren Spinnereien gehen und sagen: Das wird getragen und es lohnt sich, dieses Garn zu produzieren”, erklärt Ann Cathrin.
Das hoffe ich sehr – nicht nur, weil ich Ann Cathrin und Franziska persönlich den Erfolg mit ihrer Idee unbedingt wünsche – sondern auch, weil Chiengora® (im industriellen Maßstab produziert) wirklich eine tierleidfreie und nachhaltige Alternative sein kann.
©Alle Bilder in diesem Artikel: YarnSustain