Was Verschwörungsideologien mit Antisemitismus und Rassismus zu tun haben

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2. September 2020

Der erste Teil zu Verschwörungsideologien (auf die genauen Begriffe werden wir gleich noch genauer eingehen) ist jetzt schon wieder eine Weile her, aber unter anderem aufgrund der Tatsache, dass so viele spannende Projekte aktuell anstehen und immer mehr Artikel hier sehr aufwändig in der Vorbereitung sind (wenn ihr diese Arbeit unterstützen möchtet, könnt ihr das hier tun), dauert es manchmal ein wenig, bis ein Folgeteil erscheint.

Doch jetzt ist es geschafft: Nachdem ich in Teil 1 mit der Neurowissenschaftlerin Maren Urner darüber gesprochen habe, warum Menschen Verschwörungserzählungen gut und richtig finden und wie man mit Leuten reden kann, die auf einmal glauben, Corona sei eine Erfindung von Bill Gates, möchte ich mich in diesem zweiten Teil damit beschäftigen, wie viel Rassismus und Antisemitismus in diesen Erzählungen steckt.

Dazu habe ich bei der Amadeu Antonio Stiftung, die sich unter anderem mit genau diesen Fragen beschäftigt und darüber hinaus wichtige antirassistische Aufklärungsarbeit macht, für ein Interview angefragt. Melanie Hermann hat sofort zugesagt und ist bereit, sich rund 1 Stunde mit mir über Verschwörungsideologien und die Zusammenhänge zu Religion, Satanismus und vor allem Antisemitismus zu sprechen.

Melanie arbeitet seit Jahren intensiv zu Verschwörungsideologien und wirkt unter anderem beim Projekt “No World Order – Handeln gegen Verschwörungsideologien und Antisemitismus” mit. Sie schreibt außerdem auf Belltower News über Antisemitismus und Rassismus.

Welcher Begriff ist der richtige?

Danke dir, dass du dir die Zeit für dieses Interview nimmst!

Meine erste Frage hat direkt mit den Begrifflichkeiten zu tun: In den meisten Medien wird oft von „Verschwörungstheorien“ gesprochen. Es gibt alternative Begriffe, die allerdings noch nicht so populär sind – zum Beispiel „Verschwörungserzählung“, „Verschwörungsmythen“ oder „Verschwörungsideologien“ (das habe ich bei euch zum Beispiel häufig auf der Website gefunden). Welchen Begriff oder welche Begriffe benutzt du und welche nicht – und aus welchen Gründen?

Melanie Hermann: Vorweg: Ich finde es gar nicht so wichtig, immer den richtigen Begriff zu verwenden. Ich glaube, die Auseinandersetzung darüber, warum einige Begriffe besser und andere weniger gut passen, ist am Ende das, was entscheidend ist. Es geht gar nicht so sehr darum, das richtige Wort zu sagen. Hinter der Entscheidung, welche Begriffe man wählt, steht immer eine ganze Diskussion – und es ist wichtig, sich genau mit dieser Diskussion zu beschäftigen.

Von „Verschwörungstheorie“ wird entweder nur noch in einem medialen Diskurs gesprochen, weil das etwas ist, das Menschen schnell einordnen können. Oder in der politischen Bildungsarbeit, wenn man erreichen möchte, dass Menschen sich nicht vor den Kopf gestoßen fühlen. Der Grundgedanke dahinter ist, dass dieser Begriff die Menschen am ehesten abholt. Es gibt mehrere Gründe, weshalb er im wissenschaftlichen Diskurs nicht mehr so stark verwendet wird. Einer ist, dass der Begriff bereits stigmatisiert ist. Ein anderer, dass Menschen sofort denken, sie wissen, worum es geht, wenn sie den Begriff „Verschwörungstheorie“ hören.

Ich persönlich finde den Begriff allerdings nicht gelungen, weil ich „Theorie“ als etwas begreife, das in einem wissenschaftlichen Kontext steht – und zwar nicht dadurch, dass sie von Wissenschaftler:innen oder Akademiker:innen gemacht wird. Sondern weil sie sich idealerweise an Regeln halten muss. Eine Theorie lebt von bestimmten Grundsätzen: Sie wird von einem Erkenntnisinteresse getrieben, das heißt, jemand möchte wirklich verstehen, wie etwas funktioniert oder zusammenhängt.

Dazu gehört auch, dass man am Ende nicht eine bestimmte Antwort haben will. Der Weg ist das Ziel. Man möchte einen Sachverhalt wirklich begreifen und man macht verständlich, wie man dahinkommt: Welcher Mittel habe ich mich bedient? Worauf beziehe ich mich? Was ist die Ausgangslage? Was ist meine eigene Position?

Das mache ich so gut nachvollziehbar, dass theoretisch irgendeine andere Person sich das anschauen und nachvollziehen kann – und vielleicht zu einem anderen Schluss kommt als ich. Das muss eine Theorie auch aushalten: dass sie angegriffen wird und gegebenenfalls auch widerlegt bzw. reformiert wird. Wenn Erkenntnisinteresse im Vordergrund steht und man genau weiß, wie man von A nach B kommt und wo die Quellen liegen, dann kann man die Theorie immer wieder verbessern oder ändern. Das ist auch gar nicht schlimm, denn es kommt am Ende darauf an, dass ich etwas herausfinde.

Das alles erfüllen Verschwörungsideologien nicht.

Die Begriffe, die ich benutze, sind vor allem „Verschwörungsideologie“ und „Verschwörungserzählung“.  „Verschwörungserzählung“ benutze ich, wenn ich darauf hinweisen will, dass es um eine konkrete Erzählung geht. Da geht es noch nicht um ein geschlossenes Weltbild, sondern um eine Erzählung, in der es um eine Verschwörung geht.

Wenn sich mehrere Erzählungen zu einem geschlossenen Weltbild verdichten – manchmal kann das aber auch schon aus einer Erzählung heraus passieren –, dann spreche ich von „Verschwörungsideologie“. Das heißt in dem Fall, dass “das große Ganze” erklärt werden soll: Es gibt keine Widersprüche oder Grauzonen und keine Komplexität. Verschwörungsideologien sind bestimmt von einer Eindeutigkeit, die in sich geschlossen ist und an die nichts mehr herankommt. Alles, was als Zweifel an die Ideologie herankommt, wird von ihr sofort als neue Verschwörungserzählung in die Ideologie integriert.

An der Stelle wird es gefährlich. Vorher ist das Potenzial, gefährlich zu werden, zwar ebenfalls da. Doch wenn das Weltbild geschlossen ist, wird es sehr schwierig, an die Leute heranzukommen – und dann transportiert es in der Regel auch menschenfeindliche Inhalte und legitimiert anti-demokratisches Verhalten und Gewalt.

Manchmal wird außerdem von „Verschwörungsmythos“ gesprochen. Ein Mythos liegt vor, wenn diejenigen, die als Verschwörer:innen benannt werden, keine realen Verhältnisse widerspiegeln. Die “jüdische Weltverschwörung” wird zum Beispiel als Verschwörungsmythos eingeordnet – Reptiloide wären ein weiterer Mythos.

Diesen Begriff verwende ich persönlich eher selten und auch nicht so dogmatisch: Ich spreche in der Regel von einem Mythos, wenn etwas vermeintlich Immerwährendes vorliegt, wenn in dem Mythos also davon ausgegangen wird, dass es sich um einen Sachverhalt handelt, der schon immer dagewesen ist. Aber das ist genau genommen eher Haarspalterei.

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Was haben Verschwörungsideologien mit Religion zu tun?

Das bringt auf jeden Fall ein bisschen Licht in die Sache. Danke dir auch nochmal für den Hinweis, sich nicht zu sehr auf Begriffe zu versteifen – das passiert mir ganz gerne mal, muss ich sagen.

Melanie Hermann: Das passiert allen. Doch die Diskussion dahinter kann sehr fruchtbar sein: Sprache ist ja mehr als nur Worte. Über die Begriffe kann man sehr gut diskutieren, denn auch von den Menschen, die sie anderes verwenden, kommen in der Regel ziemlich gute Argumente für ihre jeweilige Verwendungsweise – so nähert man sich dem Gegenstand an.

Ich habe gerade daran gedacht, dass „Mythos“ ja nicht allzu weit von Religion entfernt ist. In dem neuen Paper, das ihr zu Verschwörungserzählungen in Zeiten von Corona herausgebracht habt, gibt es ja auch einen Absatz von „apokalyptischen Vorstellung eines Kampfes von Gut und Böse“, der immer wieder rezitiert werde. Wie nahe stehen Verschwörungsideologien religiösen Strukturen?

Melanie Hermann: Ganz nahe. Einerseits gibt es personell beziehungsweise in den Milieus viele Überschneidungen zu psychologischen und sektenähnlichen Zusammenhängen (Königreich Deutschland, Ivo Sasek) und auch große Überschneidungen zu Esoterik. Das geht in viele Bereiche, die das Attribut „alternativ“ tragen – alternative Medizin, alternative Bildung und andere Bereiche, die mystische und religiöse Züge aufweisen.

Ein Strukturmerkmal von Verschwörungsideologien und Antisemitismus (der im Grunde eine Verschwörungsideologie ist) ist ein manichäisches Weltbild.

Der Manichäismus stammt aus dem christlichen Mystizismus und ist die Vorstellung, dass sich die Welt in einem immerwährenden Kampf zwischen Gut und Böse und Licht und Schatten befindet. Dieser immerwährende Kampf ist stets kurz vor der Apokalypse: Die Vorstellung, dass dieser Kampf kurz bevorsteht und man sich jetzt für die richtige Seite entscheiden muss, steht im Zentrum. Man muss die anderen aufwecken, die noch „schlafen“ und sie dazu bewegen, gegen den vermeintlich übermächtigen Feind zu kämpfen.

Ein Aspekt von dem Manichäismus ist, dass die ganze Welt in dieses Gut-Böse-Schema eingepasst wird – von der Dichotomie von Licht und Schatten und Freund und Feind wird alles bestimmt, es gibt kein Dazwischen, keine Uneindeutigkeit und keine Widersprüche. Es ist ganz klar: Entweder man ist Freund oder man ist Feind, gehört zu den Guten oder zu den Bösen. Man kann höchstens die Verschwörung noch nicht sehen und sich deswegen noch nicht entschieden haben – aber eigentlich gibt es aus dieser Perspektive nur diese beiden Seiten.

Daher ist der Manichäismus ein Feindbildproduzent: Das Böse ist immer das absolut Böse, das Böse an sich. Es wird nicht dadurch böse, dass es böse Dinge tut, sondern es tut böse Dinge, weil es das absolut Böse an sich ist – es kann sozusagen gar nicht anders.

Wie der Teufel.

Melanie Hermann: Genau. Nur dass das Böse nicht unbedingt als Teufel benannt werden muss. Allerdings gibt es im Kontext von Verschwörungsideologien auch ganz häufig einen Glauben an Satanismus. Auch in den gängigen Verschwörungserzählungen, die gerade populär sind, gibt es Anklänge davon.

Die Vorstellung, es gebe etwas absolut Böses, das überall ist, ist ein ganz klar antisemitisch konnotiertes Feindbild. Gleichzeitig ist darin auch immer die Vorstellung enthalten: Wenn mein Feind das absolut Böse ist, der nur Böses im Sinn hat und dessen einziges Ziel meine Vernichtung ist – dann ist der Umkehrschluss, wenn man das zu Ende denkt: Die einzige Möglichkeit, mich und meine Gruppe zu retten, ist die Vernichtung des Feindes.

Das ist einerseits ein apokalyptisches Verständnis. Andererseits ist das auch eine Legitimation von Gewalt und Vernichtung, weil dieses Verständnis automatisch eine Notsituation aufruft, in der ich mich wehren muss: Es geht immer um alles.

Verschwörungsideologien sind strukturell antisemitisch

Das ist auch damit gemeint, wenn davon gesprochen wird, dass Verschwörungsideologien strukturell antisemitisch sind? 

Melanie Hermann: Genau. Wenn man sich strukturell anschaut, wie Verschwörungsideologien funktionieren und wie Antisemitismus funktioniert, sieht man 4 wesentliche Punkte, die deckungsgleich sind.

Das eine ist die Personifizierung gesellschaftlicher Verhältnisse. In Verschwörungsideologien und im Antisemitismus werden gesellschaftliche Missstände und die Vorstellung, wie idealerweise eine Gesellschaft sein könnte und woran es derzeit scheitert – real existierende Probleme, die man durchaus kritisieren kann und muss – nicht als komplexes, strukturelles Problem begriffen. Diese Probleme sind die Schuld der Verschwörer:innen: Sie sorgen dafür, dass die Welt so schlecht ist, ich daran leide und der Kapitalismus ein Raubtierkapitalismus ist. Sie machen den Kapitalismus an sich. Alle Probleme werden auf eine verantwortliche Gruppe sublimiert.

Das Zweite ist ein krasses Rückbesinnen auf homogene Gruppen, quasi auf völkische Kollektive. Das gehört immer zur Feindbildbestimmung. Beides kommt nicht ohneeinander aus, weil ein völkisches Kollektiv immer eine absolute Eindeutigkeit vermittelt, in der Personen komplett aufgehen und mit der sie sich komplett identifizieren können. Als Einzelperson muss ich nicht mehr fluide sein oder mich erst in eine Rolle finden, sondern habe einen ganz klaren Platz. Dieser wird gleichzeitig immer gewaltvoll hergestellt, weil es keine Unterschiedlichkeit und keinen Pluralismus geben darf. Alle müssen immer gleich sein und immer dasselbe wollen. Das gibt es natürlich nicht und deswegen braucht so eine Volksgemeinschaft eine Vorstellung von einem absoluten Feind, dem absoluten “Zersetzer”, an den man alles auslagern kann, was im Zuge der gewaltvollen Herstellung der Gemeinschaft problematisch wird.

Das Dritte, was Verschwörungsideologie und Antisemitismus gemeinsam haben, ist das manichäische Weltbild, das ich gerade erklärt habe.

Das vierte Strukturmerkmal ist der Vernichtungswille und die damit einhergehenden Legitimationsstrategien. Der Vernichtungswille tritt im Antisemitismus relativ offen zutage, allerdings auch nicht immer: Manchmal ist auch nur das Potenzial dafür angelegt. Sowohl beim Antisemitismus als auch bei der Verschwörungsideologie wird durch diese Vorstellung, dass es einen übermächtigen Feind gibt, dessen einziges Ziel meine Vernichtung ist, immer das Potenzial dafür da, diesen Feind vorher zu vernichten.

Fehlende gesellschaftliche Aufarbeitung und Kommunikationslatenz

Ich finde den Punkt sehr interessant, dass sich Verschwörungsideologien häufig in esoterischen oder sich selbst als „alternativ“ labelnden Bereichen wiederfinden. Als du gerade völkische Kollektive und Naturheilverfahren angesprochen hast, musste ich daran denken, dass es ja auch im Nachhaltigkeitsbereich problematische Siedlungsbewegungen gibt. Dazu passt, dass, als Corona noch neu war, der Virus in einigen Kreisen direkt als „Rache der Natur“ mystifiziert wurde – das kam unter anderem auch stark aus der esoterischen Nachhaltigkeitsbubble. Ich habe den Eindruck, sowas schwimmt immer unter der Oberfläche mit, und wenn es dann eine Erschütterung gibt, brechen sich solche Dinge Bahn und man fragt sich: Wo kommt das denn jetzt her?

Melanie Hermann: Was du beschreibst, ist eine Kommunikationslatenz. Es gibt eine Art „gesellschaftliches Unbewusstes“, wenn man das psychoanalytisch fassen möchte. Das ist wie ein Speicher im gesellschaftlichen Gedächtnis, in dem Dinge über Generationen angelegt sind – auch über ein gesellschaftliches Gespräch, das manchmal offen stattfindet, manchmal auch verdeckt und verklausuliert. An dieses Gespräch kann aber erstaunlich gut angeknüpft werden, wenn der gesellschaftliche Raum bzw. der historische Moment so ist, dass Dinge wieder sagbar sind. Antisemitismus oder auch verschwörungsideologische Weltbilder werden leicht abrufbar, genauso wie andere Ressentiments. Daran merkt man, dass keine gesellschaftliche Verarbeitung, keine ernsthafte und schmerzhafte Auseinandersetzung mit den Themen stattgefunden hat.

In dem Moment, in dem man davon ausgeht, kein Problem mehr zu haben, bleiben diese nicht aufgearbeiteten Dinge in einer Kommunikationslatenz erhalten. Für Antisemitismus ist das ganz deutlich: Nach 1945 war es nicht mehr salonfähig, Jüd:innen zu hassen – der Antisemitismus war deshalb aber nicht verschwunden. Doch durch eine Eingrenzung dessen, was sagbar ist, hat man angefangen, sich einer anderen Sprache zu bedienen oder sich zu verklausulieren und in Codes und Chiffren zu kleiden.

 Was man leider immer wieder sieht, ist: Selbst Leute, die von sich selbst ehrlicherweise denken, dass sie keine Antisemit:innen sind, vertreten manchmal ein antisemitisches Weltbild.

Was man im Kontext von Verschwörungsideologien beobachten kann, ist, was für ein starkes Radikalisierungspotenzial mit ihnen zusammenhängt: In dem Moment, indem Verschwörungsideologien eine positive gesellschaftliche Resonanz erfahren, setzt sich die Radikalisierung fort – und irgendwann kommen diese Menschen dann bei Jüd:innen als „Bösem“ raus. Dann wird aus dem strukturellen ein manifester Antisemitismus, der sich tatsächlich gegen Jüd:innen richtet.

Codes und Chiffren

Hast du ein Beispiel für die Codes, die du gerade erwähnt hast?

Melanie Hermann: Da gibt es ein gutes Buch von Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz zu: „Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert“, in dem werden solche Codes gut beschrieben. Einige, die häufig fallen, sind zum Beispiel „die Banker von der Ostküste“, „das Finanzkapital“, „der Raubtierkapitalismus“ oder „die Zinsknechtschaft“.

Begriffe, in denen anklingt, dass Kapitalismus personifiziert werden soll – „die mächtige Elite“, „die Strippenzieher“, „die, die wirklich die Fäden in der Hand haben“ – werden ebenfalls oft genannt. Das kennt man auch aus dem nationalsozialistischem Sprech – unter anderem von dem Gegensatz von „raffendem“ und „schaffendem“ Kapital.

Auch die Vorstellung, es gebe eine „Schattenregierung“ oder eine geheime, mächtige Elite, die im Hintergrund die Geschicke der Welt lenkt, gehört dazu. Das wird wiederum häufig mit den Bilderbergern oder anderen Personen, die entweder tatsächlich jüdisch sind oder denen man unterstellt, jüdisch zu sein, assoziiert. Die Rothschilds sind ein prominentes Beispiel, die darüber hinaus eine Bankiersfamilie sind. Den Rockefellers wird immer wieder unterstellt, jüdisch zu sein (sind es meines Wissens nach aber nicht) – auch George Soros wird häufig in diesen Zusammenhängen genannt. Es bündelt sich relativ viel Hass in jüdischen Personen.

Der Trick, das an Menschen festzumachen, die man als vermeintlich jüdisch identifiziert, ist, dass man dann sagen kann: „Naja, da kann ich ja nichts für, dass das auch Juden sind – die sind immerhin dafür verantwortlich!“

Das ist auch im Anti-Zionismus, also der vermeintlichen Israel-Kritik vorhanden. Natürlich ist nicht jede Kritik an der Politik des Staates Israel antisemitisch – doch wenn bestimmte Kriterien erfüllt werden, schon. Dann kann Anti-Zionismus ein guter Ausweg sein, um den eigenen Antisemitismus auszuleben, weil man vermeintlich „nur politische Zustände“ kritisiert.

Verschwörungsideologien

Kritik üben – aber richtig

Mein eigenes Umfeld ist links geprägt – viele denken von sich, sie seien solidarisch mit allen anderen und absolut antirassistisch eingestellt. Ich beobachte dabei immer wieder, dass es nicht einfach ist, die Grenze zwischen Israelkritik und Kapitalismuskritik und Antisemitismus zu ziehen – gerade auch bezüglich der Codes, die du gerade angesprochen hast. Gerade den Begriff „Elite“ liest man immer wieder und mir persönlich ist erst vor kurzem klar geworden, dass man damit sehr vorsichtig umgehen muss, weil einem unter Umständen gar nicht klar ist, was man da für eine Geschichte rezitiert.

Melanie Hermann: Ich möchte trotzdem weiterhin Menschen dazu ermutigen, Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen und auch im Kapitalismus zu üben – es gibt ja tatsächlich gesellschaftliche Elitenbildung, die ein Problem ist. Das ist total kritikabel – man muss nur das tatsächliche Problem kritisieren und nicht die eigenen Affekte auslagern wollen.

 Im Umgang mit Verschwörungsideologie ist ein häufiges Problem, dass von den Menschen Vertrauen in die Institutionen erwartet wird. Sie sollen darauf vertrauen, dass schon alles läuft. Ich finde: Das ist Quatsch. Die Menschen haben gar keinen Grund, so viel Vertrauen in die Institutionen zu haben – das ist Vertrauen, das man sich erst einmal verdienen muss.

Die Menschen sollen aus meiner Perspektive eher Vertrauen in sich selbst und die eigene Fähigkeit zur Kritik haben – und man kann lernen, was eine tatsächliche Kritik von einer Verschwörungsideologie unterscheidet. Es ist wichtig, das zu lernen und gesellschaftliche Verhältnisse auf eine progressive, nicht auf eine regressive Art zu kritisieren.

In Workshops werde ich oft gefragt, wie man jetzt Kapitalismus kritisieren kann, ohne antisemitisch zu sein. Ich würde sagen: Es ist wichtig, eine Kritik zu formulieren, die wirklich das Problem erfasst. Nur so eine Kritik kann das Problem auch ändern. In dem Moment, in dem ich es auslagere – und eine Verschwörungsideologie ist immer ein Auslagern von einem Problem und kein Angreifen des Problems – kann ich das Problem niemals verändern. Dann stecke ich in den gesellschaftlichen Verhältnissen fest und mache sie unter Umständen noch schlimmer.

Die Rolle prominenter Verschwörungsideolog:innen

Was für eine Rolle spielen vermeintlich prominente Personen, die sich über einen längeren Zeitraum tendenziell rassistisch und antisemitisch geäußert haben und in einem solchen Moment wie wir ihn jetzt zum Beispiel haben, die freiwerdende Bühne beanspruchen?

Melanie Hermann: Sie haben natürlich eine riesige Reichweite. Dass solche Dinge offiziell gesagt werden dürfen, fand ich auch in der juristischen Entscheidung bezüglich einiger Prominenter – die mit ihren Verschwörungsideologien nicht nur viele, sondern vor allem auch viele junge Menschen erreichen – ein starkes Stück.

Jetzt gerade haben wir eine gesellschaftliche Situation wie unter dem Brennglas, in der die Grenzen des Sagbaren explodiert zu sein scheinen. Menschen fühlen sich ermutigt, ganz offen eindeutige Ressentiments von sich zu geben und Bezüge zum Nationalsozialismus herzustellen – wie Atilla Hildmann zum Beispiel, der mit einer Reichskriegsflagge auf einer Demonstration herumläuft und positive Bezüge zu Adolf Hitler herstellt. Vor einer Weile wäre das sicher noch nicht bei so vielen Menschen so gut angekommen.

Donald Trump ist ein weiteres gutes Beispiel dafür, wie man komplett postfaktisch – nur basierend auf Affekten und Ressentiments und Verschwörungserzählungen – erfolgreich Politik machen und sich damit gleichzeitig jeder differenzierten Auseinandersetzung und Kritik entziehen kann. Man ist in dem Moment immun vor Kritik, weil die Auseinandersetzung nicht mehr auf einem argumentativen Fundament steht, auf dessen Basis man Rede und Antwort stehen könnte.

Das kommt bei vielen Menschen gut an, weil es sie auf einer emotionalen Ebene anspricht: Sie müssen sich nicht reflexiv damit auseinandersetzen, ob er etwas Schlaues sagt oder nicht, sondern werden in ihren Empfindungen und Feindbildern, für die sie diese Gefühle hegen, bestätigt. Dass Menschen damit an die Macht kommen, ist extrem gefährlich. In dem Moment, in dem diese Weltsicht zur Staatsräson wird, wird sie legitimiert.

 Es ist wichtig zu wissen: Der Nationalsozialismus ist das historisch eindringlichste Beispiel dafür, was passiert, wenn eine Verschwörungsideologie zur Staatsräson wird. Eine antisemitische Verschwörungsideologie war die Grundlage des nationalsozialistischen Staates. Alles, was danach kam, wurde rhetorisch und mit Bewusstsein der Täter:innen als Abwehrreaktion geframed.

Die sogenannte „Endlösung der Judenfrage“, also die massenhafte Ermordung von Jüd:innen wurde als Reaktion auf eine imaginierte jüdische Weltverschwörung, basierend auf den „Protokollen der Weisen von Zion“ verkauft, einem nachweislich gefälschten Pamphlet. Das zeigt noch einmal eindrücklich, was passiert, wenn eine Verschwörungsideologie so viel gesellschaftliche Resonanz erhält, dass sie in eine Staatsräson einfließen und sie sogar bedingen kann.

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Der Ursprung: Angst

Ich verstehe nicht, warum das niemanden mehr schockiert: Wenn Hildmann erklärt, Merkel sei schlimmer als Hitler oder von merkwürdigen Machtfantasien schwadroniert, habe ich das Gefühl, man hat sich schon wieder daran gewöhnt, dass solche Dinge sagbar sind.

Melanie Hermann: Es gibt eine Normalisierung von autoritären Wünschen. Auf der anderen Seite muss man fragen: Was ist es, das Menschen überhaupt noch schockiert? Wofür gehen Leute auf die Straße, wogegen begehren sie auf und was hat das mit mir zu tun? Wovor fürchten die Leute sich am ehesten? Das Problem liegt wahrscheinlich darin, dass in einer so unübersichtlichen Situation, wie wir sie gerade durch die Pandemie haben – mit vielen existenziellen Ängsten – die Angst vor Auflösung viel Raum bekommt: Pläne, die man sich gemacht hat, Wünsche, die man hatte und eine Zukunft, die man sich unter Umständen ausgemalt hatte, zerbröseln gerade für viele Menschen.

Je nachdem, welche Bevölkerungsschichten und welche Gesellschaft wir uns anschauen – und ich würde sagen, die deutsche Gesellschaft hat eine sehr starke Prädisposition – gibt es Sehnsüchte nach einer autoritären Auflösung dieser Ängste. Das sieht man auch an der sehr starken Sehnsucht nach ganz eindeutigen Regeln und Antworten zu Corona. Aber so funktioniert Wissenschaft nicht. Es gibt auch den Wunsch, dass „jetzt einfach mal gemacht wird“ und „sich mal jemand durchsetzt“ – eine Verdinglichung von den Ängsten vor Auflösung, Erosion und Machtlosigkeit.

Darin kommen automatisch negative Ressentiments hoch – denn diese negativen Gefühle wollen ausgelagert werden. Autoritarismus kommt nicht ohne Ressentiments aus.

Die Gesellschaft radikal mit ihren eigenen Ansprüchen konfrontieren

Weil man „die Eigenen“ und „die Anderen“ braucht, sonst funktionieren Macht und Machtakkumulation nicht: Man braucht immer eine Gruppe, gegen die man Macht ausüben kann.

Melanie Hermann: Genau. Und man muss legitimieren, dass man das macht.

Wenn man sich den Begriffsgebrauch und die Symbolik, die damit zusammenhängt, anschaut, geht es im Kern ja um Macht und Machtmissbrauch. Gleichzeitig wird von “Demokratie”, “Verfassung” und “Freiheit” gesprochen und Ken Jebsen wedelt mit dem Grundgesetz. Ich finde die Verdrehung von Diskursen und Worten und ihrer eigentlichen Bedeutung interessant und habe den Eindruck, dass das eine andere Dimension als „vorher“ angenommen hat.

Melanie Hermann: Ich habe persönlich auch den Eindruck, dass sich das verstärkt und immer weiter zuspitzt. Gleichzeitig ist es auch schwierig, in einer Situation zu stecken und sie von außen in einen Kontext einzuordnen. Insbesondere, wenn man sich stark mit dem Thema beschäftigt.

Was man nicht vergessen darf: Es gibt jetzt etwas, das es lange Zeit nicht gegeben hat: Auseinandersetzung. Es gibt immerhin Gegenpositionen dazu. Neben aller verschwörungsideologischer Mobilisierung der letzten Monate gab es auch eine Bewusstwerdung anderer gesellschaftlicher Kämpfe: antirassistische Kämpfe, Kritik an rassistischer Polizeigewalt, zunehmendes Aufdecken rechtsextremer Strukturen im Staatsapparat…

 Ich möchte gar nicht zu optimistisch klingen – bin ich auch nicht. Doch was man Verschwörungsideologien entgegenhalten kann, ist eine eigene fundierte Haltung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen und eine eigene gute Kritik an ihnen. Um zu verstehen, warum es Verschwörungsideologien gibt, muss man sich angucken, was die gesellschaftliche Grundlage dafür ist, dass sie überhaupt zustande kommen. Eine zentrale gesellschaftliche Grundlage ist, dass das Idealbild, das wir von unserer Gesellschaft haben und uns gegenseitig immer wieder erzählen – gleiche Rechte für alle, ohne dass alle gleich sein müssen, das Recht auf Unversehrtheit, die Unantastbarkeit der Würde – nicht den realen Verhältnissen entspricht. Das Idealbild ist gut, doch die Gesellschaft bleibt weit dahinter zurück: De facto sind nicht alle Menschen gleichwertig in unserer Gesellschaft.

Diesen Widerspruch lösen Menschen unterschiedlich für sich auf. Wenn man lange Zeit wirksam etwas dagegen tun möchte, dass eine Gesellschaft in ein verschwörungsideologisches Ressentiment kippt, muss man gegen diese großen und nicht adressierbaren Widersprüche vorgehen. Man braucht einen offenen Umgang damit, dass es diese Widersprüche gibt und man die aktuellen Verhältnisse verbessern muss. Es ist wichtig, unsere Gesellschaft radikal mit ihren eigenen Ansprüchen zu konfrontieren und zu versuchen, diese wahr zu machen. Daran zu arbeiten, dass in dieser Gesellschaft wirklich alle Menschen gleich sind.

Dazu gehört zum Beispiel auch, darüber zu sprechen, was unsere Vorstellung von Arbeit ist. Im Moment wird den Menschen auf dem Arbeitsamt immer noch erzählt, sie müssten sich nur anstrengen, dann würden sie einen Job finden. Falls nicht, seien sie einfach zu faul – und das stimmt schlicht nicht. Die reale gesellschaftliche Arbeit kann den Bedarf an monetären Mitteln, die die Menschen haben, nicht mehr decken. Es braucht ein Umdenken und keine Schuldzuweisung an die Menschen, die ohnehin schon prekär leben. Es handelt sich um ein strukturelles gesellschaftliches Problem, mit dem man auch als Gesellschaft umgehen müsste. Und das wiederum ist nicht wirklich sagbar. Das Thema wird an diejenigen ausgelagert, die davon betroffen sind.

Das würde schon viel helfen, Menschen gegen Verschwörungsideologien resilienter werden zu lassen: Das Gefühl zu haben, dass es einen gesellschaftlichen Ort gibt, an dem sie ihre Gefühle und Betroffenheit ausdrücken können und ihnen dabei geholfen wird, einen Umgang mit dem zu finden, von dem sie betroffen sind.

Verschwörungsideologien

Realismus bringt uns weiter

Das ist vielleicht nicht unbedingt die beste Frage gegen Ende hin, aber: Du hast gerade gesagt, du bist nicht sonderlich optimistisch. Kannst du sagen, warum?

Melanie Hermann: Ich glaube, dass man mit Optimismus nicht weit kommt. Realismus wichtig – sich anzuschauen, wo Probleme und Gefahren liegen. Ich lasse mich gerne davon überzeugen, dass alles viel besser sein kann, als ich denke. Diese Überraschung ist mir wesentlich lieber als die böse Überraschung, wenn ich davon ausgehe, es wird schon alles gut – und dann passiert das nicht. Dafür ist der Preis, den man zahlen würde, zu hoch.

Die Gefährdung, die ich gerade sehe, ist ein Zusammenspiel aus unterschiedlichen Faktoren. Im deutschen Kontext sind das vor allem die Herausforderungen, die die Pandemie mit sich bringt und auch noch in den nächsten Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten, mit sich bringen wird. Aber auch Probleme mit der Wirtschaft und der Klimakrise – der banalen Angelegenheit, dass wir gar nicht wissen, wie lange dieser Planet überhaupt noch für uns bewohnbar bleiben wird.

Außerdem gibt es eine große gesellschaftliche Unsicherheit und ein Aufeinandertreffen unterschiedlicher Wünsche nach Emanzipation und Verbesserung auf der einen und nach Rückschritt und Sehnsucht nach einer autoritären Gesellschaftsform, die wesentlich auf Menschenfeindlichkeit basiert, auf der anderen Seite. Dazwischen befinden wir uns gerade und reiben uns auf.

Ich halte es aktuell für nicht klar, in welche Richtung sich die Situation entwickeln wird. Ich bin allerdings nicht fatalistisch – dann würde ich die Arbeit hier nicht machen können. Ich denke, es besteht immer die Chance, Dinge in eine ganz andere Richtung zu lenken – dafür muss man aber Probleme benennen und angehen und nicht nur Feuerwehrarbeit machen. Man muss sich mit Gesellschaft auseinandersetzen.

Wenn eine Gesellschaft immer wieder solche Phasen und Situationen hervorbringt, muss man daran arbeiten, dass das nicht mehr passiert.

Das finde ich wichtig und halte ich durchaus auch für möglich. Ich halte es auch für möglich, dass es einen Rückfall in die Barbarei gibt, doch dagegen muss man sich permanent stellen. Es besteht immer auch die Chance, eine Gesellschaft zu bilden, in der Menschen nicht mehr leiden müssen. Ich glaube, dass es die Möglichkeiten dafür gibt. Ich weiß nicht, ob ich das noch erleben werde, aber es ist wichtig, daran zu arbeiten. Solange Menschen leiden, muss es etwas Besseres geben, denn das darf man einfach nicht hinnehmen.

Das ist jetzt tatsächlich ein sehr schönes Schlusswort. Ich danke dir für deine Zeit und das schöne Gespräch!


Bildcredit: United Nations Covid 19 Response / von mir teilweise verändert

JENNI MARR

Wanderin im Geiste, mit der Nase im nächsten Buch, nie so ganz zuhause und doch immer da.

KOMMENTARE

Ein sehr wertvoller Artikel. Danke.

Das freut mich! Sehr gerne. 🙂

Liebe Grüße
Jenni

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