DISCLAIMER: Das hier ist eine Buchbesprechung, keine Wahlempfehlung oder Nichtempfehlung. Es geht um Kritik, aber nicht darum, dass niemensch mehr die Grünen wählen oder direkt austreten soll. Transparenz: Ich bin nicht bei den Grünen.
Starke Schwächen
Die Grünen gelten gerade als die Hoffnungsträger schlechthin und ich glaube, Ulrich Schulte, Journalist mit guten Kontakten bis zur Führungsspitze der Partei, trifft einen Punkt, wenn er sagt: Sie sind vor allem Projektionsfläche. Mehr des Bürgertums als aller anderen.
Sein neues Buch “Die grüne Macht” ist eine Analyse der beiden aktuellen Hauptfiguren – Annalena Baerbock und Robert Habeck – sowie der Partei auf Landesebene und ihrer Entscheidungen und Strukturen. Eine schonungslose, aber aus meiner Perspektive dennoch faire Auseinandersetzung mit dem Versprechen der Grünen und dem, was sie davon in der Vergangenheit eingehalten haben und in der Zukunft wahrscheinlich (nicht) einhalten werden können.
Die Stärken der Grünen, wird hier sehr deutlich, sind gleichzeitig ihre Schwächen: Robert Habeck sei als der Mann bekannt, der es schaffe, Leute an den Tisch zu bringen, die sonst nur über Anwälte verkehrten. Die Grünen von heute suchen Allianzen, die für ihre eigene Partei lange undenkbar gewesen wären. Sogar in der Union gibt es so einige lobende Stimmen, Schwarz-Grün ist schon lange kein Tabu mehr. Gut auf der einen Seite: Für effektive Klimapolitik müssen sich so viele Leute wie möglich dahinter versammeln können. Schlecht auf der anderen: Viel Flexibilität bedeutet auch viele Kompromisse. Die entscheidende Frage auch in Bezug auf die Bundestagswahl wird sein: Wie viele Kompromisse?
Die Grünen sind souverän, extrem diszipliniert und wissen genau, wie mit Social Media umzugehen sei, konstatiert Schulte. Sie schafften es, interne Streitigkeiten (zum Beispiel über Homöopathie) genauso unterm Deckel zu halten wie kontroverse Themen, um die sich gerne herumgewunden werde. Dort enthalte mensch sich dann einfach. Sie könnten Teamwork und sie könnten Medienarbeit.
Versprechungen versus Realpolitik
Dabei falle gerne unter den Tisch, dass sie auch in der Klima-, aber vor allem in der Geflüchtetenpolitik große Zugeständnisse machten und machen. Zu den Verhandlungen über ein Jamaika-Bündnis 2017 seien besonders viele Forderungen rasch kassiert worden. Trocken bemerkt der Autor: “Seehofer zeigte sich später freudig überrascht über die pragmatischen Grünen.” (105) Auch Abschiebungen in nicht sichere Herkunftsländer werden unter Mitregierung der Grünen routiniert durchgeführt. “Wenn sie regieren dürfen, sind die Grünen durchaus zu Härte in der Flüchtlingspolitik bereit.” (170) Kritik am Polizeiapparat – früher gängige Praxis, die zum Selbstverständnis gehörte – ist selten, genauso wie Forderungen nach Vermögensabgaben für die Reichen. Letzteres stehe zwar offiziell im Programm, öffentlich angesprochen werde es aber tunlichst nicht. Baerbock und Habeck “meiden das Thema wie der Teufel das Weihwasser.” (180) Das kommt beim Autor nicht gut weg: Der Reflex, sich beim Verteilungsproblem wegzugucken, sei nachvollziehbar, aber nicht “intellektuell redlich”. “Deutschland ist ein extrem ungleiches Land.” (181)
Die Klimakrise verstehen die Grünen nach Schulte zwar als eine Systemkrise – aber als eine, die ohne viele persönliche Einschnitte (vor allem des Bürgertums) gelöst werden könne. Eine Verzichtspartei sind sie entgegen aller Unkenrufe nicht. Die FDP mache den Feind größer als er sei. Schulte geht soweit zu behaupten: Eigentlich sind die Grünen ein bisschen zu locker und zu kumpelhaft, um wirkliche Veränderungen zu etablieren. Der Ansatz sei zwar richtig, fasst Schulte zusammen, aber in seiner absoluten Konsequenz dann doch ein bisschen feige – denn auch SUV-Fahrer*innen, die ja durchaus mit ihrem persönlichen Konsum einen Unterschied machen könnten, entließen Baerbock und Habeck aus ihrer Verantwortung. Noch viel schwerwiegender: “Was die Grünen in der Opposition im Bund versprechen, hat mit dem, was sie in Landesregierungen umsetzen, nicht viel zu tun.” (127)
Fazit: Es reicht nicht, aber es ist ein Anfang
Es ist kein Geheimnis, dass die Grünen auch bei Klima-Aktivist*innen nicht den besten Ruf genießen. Vielen sind sie zu zahm (mir auch), viele nehmen ihnen Projekte wie die A49 so übel, dass sie sich von der Partei verraten fühlen. Fridays for Future haben sich von Anfang an explizit von den Grünen distanziert, obwohl sie sicherlich einen unbestreitbaren Einfluss auf deren aktuelle Popularität haben. Luisa Neubauer, die auch für “Die grüne Macht” interviewt wurde, meint: “Die Grünen sind bei Fridays for Future eine Partei, die geliebt und gehasst wird.” (208) Auch das Parteiprogramm der Grünen reiche nicht aus, um die Pariser Klimaschutz-Ziele zu erreichen und bei einer maximalen globalen Erhitzung von 1,5ºC zu bleiben. Das 2-Grad-Ziel werde mittlerweile auch bei vielen Grünen gemainstreamt – und das sei ein großes Problem. Aus Sicht vieler Klima-Aktivist*innen sind die Grünen keine Antwort. Sie sind das kleinste wählbare Übel.
Die Frage ist unbequem, aber sie stellt sich gezwungenermaßen: Geht es am Ende nur um “die grüne Macht”? Schultes Buch gibt keine abschließenden Antworten, sondern Einblicke, ergreift Partei pro und contra Grüne (mehr contra als pro) – und kommt zum Fazit: “Die Grünen wollen so sehr Teil des Systems sein, dass sie mit grundsätzlicher Systemkritik nichts mehr anfangen können.” (202) Trotzdem ist ihr vielleicht größter Verdienst “der einladende Gestus, der auf die ganze Gesellschaft zielt” – eine Idee von Zukunft, hinter der sich viele versammeln können und die Hoffnung mache. Es ist, schreibt Schulte, vielleicht nicht durchdacht oder ausreichend. “Aber es ist ein Anfang.” (223)
Wie bereits erwähnt: Mir geht es nicht um Skandalisierung, sondern um ein differenziertes Bild und um Kritik (an der mensch ja durchaus wachsen kann). Vor allem ist mir wichtig, nicht alle Mitglieder der Grünen oder die Grünen selbst über einen Kamm zu scheren – auch innerhalb von Parteien gibt es Strömungen, die durchaus sehr heterogen sein können. Der Fokus des Buches sind vor allem die “Habeck-Baerbock-Grünen”. Wichtig ist mir aber auch: Die Grünen nicht als Retter*innen unserer Gesellschaft oder gar des Planeten zu stilisieren. Das sind Hoffnungen, denen wenige gerecht werden können – und diese gar nicht erst zu haben, ist realistisch und fair. Dennoch müssen sich auch die Grünen an ihren Aussagen und den darauffolgenden Taten messen lassen – und vieles gibt Anlass zu Kritik.
Ulrich Schultes “Die grüne Macht” finde ich eine sehr spannende Lektüre für alle, die sich näher mit der Partei auseinandersetzen und sich vielleicht auch ein bisschen entzaubern lassen möchten – der Text war für mich auf jeden Fall ein Erkenntnisgewinn.
©Buchcover: rowohlt Polaris
[…] bei nachhaltigen Banken. Ich versuche, möglichst ökologische Konsumentscheidungen zu treffen, die Parteien mit dem besten Klimaprogramm zu wählen und bin regelmäßig auf Demos zu finden, wenn gerade keine Pandemie ist und ich […]