Manchmal, wenn ich wieder einmal eine meiner akuten Weltschmerz-Phasen habe, frage ich mich, was wir (so als Menschen) hier eigentlich machen und wohin wir gehen wollen, als Individuen und als Gesellschaft. Warum interessiert uns die Welt um uns herum scheinbar so wenig? Wieso leben wir alle in unseren eigenen kleinen Mikro-Kosmosen, abgeschirmt durch Displays unserer Wahl im Pocketformat, Kopfhörern und unserem eigenen Tunnelblick? Wo ist unser Engagement für uns und die Welt hin – und kann es wiederkommen?

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Es sind Gedanken wie diese, die ich an verregneten Abenden, an der Fußgängerampel oder an der Supermarktkasse im Gehirn hin- und herschiebe. Sie schleichen sich in meinen Kopf, während ich die Menschen um mich herum beobachte – ein Kommen und Gehen, ein Durchfließen und -sehen, ein Aneinandervorbeileben, lauter Körper im Einzeltakt.

Gibt es Platz für tiefe Gedanken?

Sie hetzen, sie laufen – mal hektisch, mal weniger hektisch – jede*r von ihnen hat ein bestimmtes Ziel, jetzt und immer. Jede*r von ihnen ist Mittelpunkt seiner eigenen kleinen Welt und sieht die anderen als Statist*innen. Das, was auch und gerade die Existentialist*innen umgetrieben hat, will nicht so recht in meine grauen Zellen vordringen und ich versuche, das Band an der Kasse mit dem Blick des offensichtlich schon zu Mittagszeiten Bier trinkenden Studenten zu betrachten. Oder mit den Augen der alten Frau, die gerade mit leicht zitternder altersfleckiger Hand verpackten Salat und Obst auf das schwarze Rollband stapelt.

Wie haben sie gelebt bisher – und was wird noch kommen? Welche Geliebten haben sie gehen lassen müssen – und welche Momente der Freude sind ihnen besonders im Gedächtnis geblieben? Wie leben sie – und wie lieben sie?

Wenn ich meinen Blick hebe – egal, ob eben an dieser Kasse im Supermarkt oder in einem anderen öffentlichen Raum – frage ich mich, ob ihr anderen euch auch diese Fragen stellt. Welche Blicke ruhen auf mir – und was sind die Geschichten, die ihr euch zu mir ausdenkt? Gibt es überhaupt Geschichten für andere in euren Köpfen?

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Manchmal, wenn solche Situationen auftreten, stelle ich mir ernsthaft die Frage, ob ich zu einer Minderheit von Menschen gehöre, die sich über solche Dinge Gedanken macht – und wenn nicht, warum nicht mehr darüber gesprochen oder das Gedankenmachen nicht intensiver praktiziert wird.

Ich kenne die Antwort, bevor der Satz sich in meinem Kopf vervollständigt hat. Wenn ich den ganzen Tag arbeite oder auf harten Vorlesungs- und Seminarstühlen gesessen habe und mein Bauch meinen Körper regiert, indem er schon fast schmerzhafte Signale durch mein Innerstes sendet, weiß ich, dass ich für solche Luxuriösitäten keinen Platz mehr in mir habe. Wenn ich das geschäftige Treiben auf den Straßen registriere, diese Transiträume von menschlichen Körpern und ihren Fortbewegungsmitteln, dann leuchtet mir schnell ein, dass es vielen anderen ebenso ergehen muss.

Wir brauchen emphatische Gedanken und intensives Fühlen

Dabei sind solche Momente des Einfühlens (oder zumindest des Versuches) erste Schritte auf dem Weg zu einer umfassend emphatischeren Perspektive auf das, was uns umgibt.

Ich versuche in diesem Moment, die Welt aus den Augen eines*einer Anderen zu betrachten, gebe meinen Standpunkt, der sonst so unverrückbar erscheint, auf und akzeptiere nicht nur, dass es viele Realitäten gibt, sondern auch, dass sie gleichberechtigt nebeneinander existieren.

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Ich habe solche Erlebnisse aufgrund eines terminvollen Kalenders nicht oft, aber ich versuche, sie häufiger werden zu lassen.

Weil ich nach solchen Kopfexkursionen gefühlt mir viel mehr Emotionen durch den Tag gehe.

Für Menschen, die sowieso schon zuviel davon haben, kann das sehr anstrengend und das Tunnelblicken eine Art der schonungsvollen, reizfilternden Tagesverarbeitung sein (Stichwort: Hochsensibilität), weil noch mehr Gefühle – vor allem, wenn es sich um fremde oder fiktiv-fremde handelt (Sichtwort: fehlende Abgrenzung) – dann einfach zuviel des Guten sind.

Doch diese Palette aus Mitleid, Empathie, Sorge und einer sonderbaren Form von Nähe zu den Mitmenschen, die um einen herum im Endeffekt genau dieselben Wünsche haben wie ich – Liebe, Unversehrtheit, Deckung der Grundbedürfnisse und so weiter – kann sehr bereichernd sein und ist nicht zuletzt eine, die wir in dieser Intensität mittlerweile sehr selten erleben.

Weil wir häufig abgelenkt und unfokussiert sind? Intensive Gefühle haben keinen Platz zwischen Smartphone, Meeting und PC-Arbeit bis spät in die Nacht. Oder der Netflix und Talk-Shows.

Diese hochtechnischen Dinge haben selbstredend ihre Daseinsberechtigung. Sie sind sowohl Dienstleister als auch Symbole moderner Gesellschaften, die sich den Luxus der fortwährenden Vergnügungsbeschallung leisten können.

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Vielleicht haben auch die vollgestopften Terminkalender ihre Legitimität, wenn wir uns um den Preis des Stresses nicht mit uns selbst und den anderen beschäftigen müssen – ergo, den angesprochenen intensiven Emotionen (bewusst oder unbewusst) systematisch aus dem Weg gehen.

Weil wir nicht gelernt haben, mit ihnen umzugehen? Weil wir diese krasse, Personenschranken überwindende Nähe einfach nicht (mehr) aushalten?

Leben, darin liegt kein Glück. Leben: das schmerzende Ich durch die Welt tragen. Aber sein, sein ist das Glück. Sein: sich in einen Brunnen, in ein steinernes Becken verwandeln, in das wie warmer Regen das Universum fällt. (Kundera, Die Unsterblichkeit)

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Und wenn ich das zulasse, dass Menschen mir nahekommen können, obwohl sie gar nichts anderes gemacht haben, als zufällig mit mir zusammen zu existieren und von dieser temporären Nähe höchstwahrscheinlich nicht wissen – dann habe ich kurz das Gefühl, Zeiten anhalten zu können und wie eine 3D-Programmiererin das Modell im Mikrokosmos eines der unzähligen Leben auf diesem Planeten betrachten, drehen und wenden zu können.

Ob ich mir dabei etwas zusammenfantasiere, ist sowohl Haupt- als auch Nebensache: Hauptsache, weil ohne sie diese instabile, kurzfristige Nähe, speisend aus Interesse am Gegenüber, bevor er oder sie oder man selbst weitergerauscht ist, nicht hergestellt werden kann. Nebensache, weil es nicht wichtig ist, was ich mir da als potenzielles Leben in meinem Kopf zusammenbaue.

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Gesellschaft: Ich interessiere mich für dich

Und ist es neben dem egoistischen Interesse im Sinne eines Gesellschaftsvertrages, in dem ich die für mich beste Ausgangsposition innehaben sollte, nicht auch ein Grundpfeiler dessen, was wir moderne Demokratie nennen: das Interesse am Gegenüber?

Das, was im Größeren zu nationalen Gesetzen führt, können wir im Kleinen trainieren. Gelegenheiten gibt es genug.

Und weitergedacht: Kann das individuell und national praktizierte nicht – wenn es auf internationales Level gehoben wird – dafür sorgen, dass die Welt (ganz pathetisch gesprochen) ein besserer Ort wird?

Was Antrieb für Hilfsorganisationen und zahlreiche Charity-Projekte ist (oder sein sollte), hält auch als Motivation für nachhaltige Ambitionen her, sind diese doch meist eng mit den Schicksalen anderer Menschen verbunden.

Vielleicht müssen wir öfter raus aus unserer kleinen Echokammer, in der wir nur uns reden hören, den Blick heben und uns (wieder) bewusst machen, dass das Leben kein isoliertes, sondern eines ist, das von Netzwerken aller Arten durchzogen ist, ob wir sie nun mitbekommen, ihre Existenz gutheißen oder nicht.

Und dass es am Ende immer nur in unserem Sinne sein kann, mehr zu fühlen. Vor allem: sich endlich die Zeit dafür zu nehmen.

Outfit:

JENNI

Wanderin im Geiste, mit der Nase im nächsten Buch, nie so ganz zuhause und doch immer da.

KOMMENTARE

Ein wirklich wunderbarer Beitrag. Einfach zeitlos – und gerade heute aktueller denn je. Ich werde ihn gern noch einmal unseren Fans und Followern empfehlen.

Beste Grüße,
Eddy

Oh Jenni,
ich sehe den Artikel erst jetzt und trotzdem kam er glaube ich am richtigen Abend. Ich weiß gar nicht, was ich zuerst sagen soll, also steige ich mit einem Zitat aus dem Text ein: “Vielleicht haben auch die vollgestopften Terminkalender ihre Legitimität (…) – ergo, den angesprochenen intensiven Emotionen (bewusst oder unbewusst) systematisch aus dem Weg gehen.” Ja, und zusätzlich ist es in meinem Augen auch das System an sich, das die Dauerbeschäftigung voraussetzt und anfeuert, um unhinterfragt fortzubestehen.
In deinem Text sind so viele kluge Gedanken und gleichzeitig so viel, das mich emotional berührt. Ich muss zugeben, dass ich viel öfter im Tunnel bin als ich beobachte; ich bin in der Hinsicht sehr auf mich bezogen – oder eben einfach im Alltag gefangen – und wenn ich nach draußen schaue, bin ich oft schneller im Urteilen als im freundlichen Ausmalen anderer Lebensgeschichten. In meiner Geschichte ist gerade ein ziemlich großer Platz freigeworden – die ersten Wochen habe ich versucht, die Stille zu übertönen, aber vielleicht ist sie nun auch der Raum für eben jenes Engagement, das du nennst. Und manchmal ist sie eben auch einfach nur zum Fühlen da, weil manches einfach gefühlt werden muss. Hier eines meiner absoluten Lieblingszitate, von John Green: “That’s the thing about pain. It demands to be felt.”
xx

Liebe Jenni, deine Yoga-Bilder sind so schön genauso wie die Gedanken, die du formulierst! Ich bin, wenn ich unterwegs bin auch ganz oft abgekapselt in meiner eigenen Welt, dennoch hat zum Beispiel dieser vollgestopfte Terminkalender schon bei mir im Alltag viel mit Empathie und Sorgen für andere zu tun. Indem ich versuche Kontakte zu halten, meine Freunde und Bekannten regelmäßig zu sehen, ihre Sorgen wahrzunehmen, auch wenn sie mittlerweile ein ganz anderes Lebensmodell haben oder woanders leben und vieles anders sehen als ich und Sie auch unterstütze wo es geht.

Darüber hinaus ist es wirklich wichtig, das sehe ich genau wie du, auch an fremden Schicksalen Interesse zu zeigen, denn nur so funktioniert eben eine soziale Gesellschaft und eine Weltgemeinschaft, die nicht nur auf Profit ausgelegt ist, wie wir es uns wünschen. Dafür sollten wir das Internet und die Medien nutzen, die Geschichten erzählen und Schicksale zeigen, die die Auswirkungen unseres Handelns, zB. beim Klimawandel greifbarer machen <3 Liebe Grüße *thea

Liebe Thea,
ich danke dir herzlich für deine lieben Worte und freue mich riesig, dass der Artikel dir so gut gefällt!
Ja, ich kann das mit dem privaten Struggle und dem Overflow an Emotionen und Gedanken, den der mit sich bringt, sehr gut nachvollziehen. Und ich kenne das auch total gut, dass man dann vollkommen abgekapselt durch die Straßen läuft und mit seinem eigenen kleinen Universum beschäftigt ist und nur seine Ruhe haben will. Das ist vollkommen natürlich, denke ich. Auf der anderen Seite finde ich deinen letzten Absatz auch so unglaublich wichtig! Es ist manchmal schwierig, das alles miteinander in Balance zu bringen und zu halten – aber wenn viele von uns sich Mühe geben, das zu tun, ist schon ein großer Schritt gegangen. 🙂

Liebe Grüße an dich!
Jenni

Schöne Gedanken und wichtige. Ich bin eher so von der Fraktion zu viel davon. Das ist anstrengend aber letztlich besser als nix davon, denke ich. In Sachen Ablenkungsfaktor Smartphone stimme ich Dir durchaus zu. Letztlich ist es aber, wie so vieles, ein Handwerkszeug, das ich so oder so nutzen kann. Zum Beispiel auch dazu, tatsächlich zu hören, wie die Wirklichkeit von anderen aussieht und dadurch zu lernen. Sehr zu empfehlen, wenn Du und andere darauf Lust haben: “Rice and Shine” (zwei vietdeutsche Frauen) und “Halbe Katoffl” (Gespräche mit Menschen mit Migrationshintergrund).
Liebe Grüße, Katharina

Liebe Katharina,
da bin ich ganz bei dir: Social Media und das Internet generell sind ein Werkzeug und es kommt darauf an, wie wir es nutzen. Ich denke auch, dass ein Zuviel an Gedanken und Wahrnehmungen an dieser Stelle wahrscheinlich besser ist als zu wenig. Und danke dir auch für die Podcast-Empfehlungen! Von Rice and Shine habe ich schon sehr viel Gutes gehört, den anderen schaue ich mir auch einmal genauer an.

Liebe Grüße
Jenni

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