Wir sind Tier! Lasst euch diesen Satz auf der Zunge zergehen und denkt gut darüber nach. Stimmt ihr zu? Sind wir – Menschen – Tiere? Oder nicht vielleicht doch ein Sonderfall der Evolution, eines höher entwickelte Spezies, ein Wunderprodukt der Natur?
Ihr kennt meine Ansicht dazu: Natürlich sind wir das nicht. Wir sind weder die von Gott Auserwählten, die über sämtliches Leben zu herrschen legitimiert wurden, noch die Krone der evolutionären Entwicklung. Und wenn wir uns das vor Augen führen, bleibt eigentlich nur noch ein Schluss: Wir sind Tier.
Tier genauso wie der sorgsame Waschbär, der brummige Gorilla, der verspielte Welpe. Tier genauso wie der Schimpanse im Berliner Zoo, der Wellensittich auf der Stange, die Kaninchen im Gras.
Und doch fällt es uns noch immer so schwer, genau das anzuerkennen. In philosophischen, religiösen, wissenschaftlichen Diskursen wird immer wieder nach einer Begründung für die Besonderheit, die Einzigartigkeit des Menschen gesucht. Und damit unterschwellig ebenso nach einer Legitimation für die Ausbeutung anderer Lebewesen. Nach der Fasson: “Wir sind halt die Stärkeren – und nach den Gesetzen von Mutter Natur dürfen wird das.”
Langsam schleicht sich die Erkenntnis ein, dass es so einfach nicht ist. Und dass eine derartige Betrachtungsweise nicht nur ethisch, sondern auch faktisch falsch ist.
Einen wertvollen Beitrag dazu leisten Barbara Natterson-Horowitz und Kathryn Bowers in ihrer populärwissenschaftlichen Abhandlung “Wir sind Tier. Was wir von den Tieren für unsere Gesundheit lernen können.”
Worum geht es?
Es geht um uns. Und um die Tiere. Und die Verbindungen, die unleugbar zwischen dieser Vielzahl an Lebewesen existieren.
Aufgezeigt werden diese, indem verschiedenste Krankheiten, von denen der Laie automatisch ausgeht, dass die rein menschliche Probleme seien, auf ihr Vorhandensein im Tierreich untersucht werden. Und siehe da: Man wird fündig. Im erstaunlichen Ausmaße.
Die beiden Autorinnen (Natterson-Horowitz ist Professorin für Kardiologie an der University of California und Kathryn Bowers unterrichtet ebenfalls dort – allerdings im Schwerpunkt Medical Writing) haben es sich zur Aufgabe gemacht, was sich wenige Humanmediziner trauen: Die Parallelen zwischen tierischer und menschlicher Gesundheit und Krankheit zu ziehen.
Wie kommen wir eigentlich mehrheitlich auf den Gedanken, dass Krebs einzig unser Leiden sei (von einigen erfahrungsgeplagten Hundebesitzern einmal abgesehen)? Warum glauben wir, dass wir die einzigen sind, die unter Depressionen, Sucht, selbstverletzendem Verhalten und Geschlechtskrankheiten leiden?
Die Antwort liegt auf der Hand: Wir blicken nach wie vor aus einem anthropozentrischen Standpunkt auf die Welt – und alles, was sich auf ihr bewegt. Das heißt: Wir stellen uns ganz selbstverständlich in den Mittelpunkt bzw. an die Spitze der Pyramide. Daraus kann nur Speziesismus resultieren – also das Abwerten, Missbrauchen und Ausnutzen anderer Lebewesen einzig aufgrund der Basis, dass sie nicht zur Art Homo sapiens sapiens gehören.
Dass diese Denkmuster mehr als überholt sind, können die beiden Autorinnen anschaulich belegen, indem sie sich die Parallelen zwischen folgenden Krankheiten und Verhaltensauffälligkeiten bei Mensch und Tier genauer anschauen:
- Ohnmacht
- Krebs
- Sexuelle Störungen (v.a. Potenzprobleme)
- Drogenabhängigkeit
- Plötzlicher Herztod
- Fettleibigkeit
- Autoaggressives Verhalten
- Essstörungen
- Risikobereitschaft in der Pubertät
Wusstet ihr beispielsweise, dass…
- …schon Dinosaurier Krebs hatten?
- …Ohnmacht ein evolutionäres Überbleibsel der Tarnungs-Strategie gejagter Tiere ist?
- …Golden Retriever eine 60%-ige Wahrscheinlichkeit besitzen, an Krebs zu erkranken?
- …auch Pferde Potenzprobleme haben?
- …Kängurus süchtig nach Mohn und Hunde nach Krötensekret werden können?
- …Frigidität bei Frauen eine neurobilogische Ursache haben kann?
- …High Heels so sexy sind, weil damit die sexuell attraktive Lordose-Stellung (leichtes Hohlkreuz) begünstigt wird?
- …die Darmflora ein wichtiger Indikator dafür ist, ob jemand zu- oder abnimmt?
- …auch Tiere hemmungslose Fressattacken bekommen?
- …autoaggressives Verhalten aus dem Ruder gelaufene Hygiene ist?
- …Sucht evolutionär in uns angelegt ist?
- …es vom Stresspegel abhängt, ob wir kohlenhydratreiche oder proteinreiche Nahrung bevorzugen?
- …Spinnen auch so etwas wie Lust am Sex haben können?
- …es wichtig ist, in der Jugendphase risikobereit zu sein?
Diese und noch viele weitere interessante und hochspannende Zusammenhänge werden uns im Verlauf des Buches präsentiert.
Was wir dabei lernen können, ist, dass wir Menschen gar nicht so besonders (in positiver wie negativer Hinsicht) sind und dass wir viel mehr Tier sind, als wir zugeben möchten.
Verknüpfung von Human- und Tiermedizin
Die beiden Autorinnen (die übrigens der Stilistik halber im Text als Ich-Erzählerin auftreten, die Forschungsergebnisse allerdings in gemeinsamer Arbeit zusammengetragen haben) bearbeiten hier ein noch weitgehend brachliegendes Feld: Sie verknüpfen Erkenntnisse aus der Tiermedizin mit bisher ungelösten Problemen der Humanmedizin.
Denn so, wie es mir vor dem Lesen dieses Buches erging, scheint es vielen Menschen zu gehen: Es wird schlicht und ergreifend keine Verbindung zwischen diesen beiden Disziplinen hergestellt – und dass, obwohl so wichtige Erkenntnisse verloren gehen.
Nach wie vor machen sich – so Natterson-Horowitz und Kathryn Bowers – Mediziner*innen mit menschlichen Patienten eher naserümpfend über Kollegen mit tierischem Klientel lustig und schauen auf sie herab, als dass sie diese als gleichberechtigte Partner*innen wahrnehmen.
“Wir sind Tier” schafft hier eindeutig Abhilfe und stößt einen Denkprozess an, an dessen Ende unweigerlich die Erkenntnis steht: Auch mein Tierarzt kann möglicherweise Antworten nicht nur auf die Leiden meines tierischen Schützlings, sondern auch auf meine Leiden haben.
Umsetzung
An dieser Stelle darf der Übersetzerin ein Lob ausgesprochen werden: Denn sie hat es geschafft, das Buch aus dem amerikanischen Englisch stilsicher und ohne störende, seltsam anmutende Formulierungen ins Deutsche zu übertragen.
Doch ein Wesentliches hierzu hat sicherlich ebenfalls der Schreibstil der beiden Autorinnen beigetragen, der gut verständlich gehalten, allerdings mit den für den Laien notwendigen Erklärungen und wörtlichen Übersetzungen gefüttert ist.
Wir werden über alltägliche Erzählungen (beispielsweise dem Ohrlochstechen der Tochter Natterson-Horowitz’) auf wissenschaftliche Phänomene gelenkt, unser Blick wird anhand verschiedenster Beispiele, die stets für uns nachvollziehbar sind, auf abstraktere Zusammenhänge gelenkt. Dabei sind die mit zahlreichen Belegen untermauerten Erläuterungen auch auf der 300sten Seite noch nicht langweilig. Das Quellenverzeichnis des knapp 450 Seiten starken Buches umfasst übrigens satte 60 Seiten – hier wurde also ausführlich recherchiert und geforscht.
Die Thesen, die im Laufe der Abhandlung aufgestellt werden, werden uns ehrlicherweise auch also genau das präsentiert: als Thesen, also Behauptungen. Nirgendwo wird uns weisgemacht, man habe den Heiligen Gral der Humanmedizin gefunden. Doch berechtigterweise weisen die Autorinnen immer wieder auf die nicht zu leugnenden Verbindungen zwischen menschlicher und tierischer Neurochemie, Physiologie und Psyche hin. Und die Behauptungen, die sie präsentieren, wissen sie durch geschickte und zielführende Argumentationen zu untermauern – sie erscheinen durchweg plausibel und sind, wie ebenfalls wiederholt betont wird, auf jeden Fall einer weiteren Forschungsarbeit dienlich.
Problematisch: die anthropozentrische Perspektive
So gerne ich dieses Buch auch gelesen habe, so viele neue Blickwinkel mir auch eröffnet wurden und so empfehlenswert ich es im Ganzen auch finde – eines hat mich immer wieder gestört: Die anthropozentrische Perspektive wird auch hier nicht abgelegt.
Denn stets ist davon die Rede, dass die Erkenntnisse, die aus der Tiermedizin gezogen werden können, dem Menschen und der Behandlung bisher unerklärbarer Leiden dienlich sei. Das ist sicher richtig – doch wo bleibt das Tier dabei? Wenn wir doch schon selbst Tier sind?
Fairerweise muss angemerkt werden, dass die Autorinnen sich dieser Problematik bewusst zu sein scheinen, merken sie doch zum einen gleich zu Beginn des Buches an, dass hier definitiv kein Plädoyer für Tierversuche vorliege und streuen sie unterwegs immer wieder Häppchen mit Verweis darauf, dass Fortschritte in der Humanmedizin auch den Tieren zugutekommen würden.
Man kann diese Erklärungen als Legitimation hinnehmen. Ich allerdings finde, das ist zu wenig. Vor allem für eine Abhandlung, die sich die Gleichheit von Tier und Mensch gewissermaßen auf das Titelbild geschrieben hat.
Fazit: Kaufen oder nicht kaufen?
Zoobiquity – Plädoyer für eine speziesübergreifende Medizin lautet die Überschrift des letzten, abschließenden Kapitels. Und genau das liefert Wir sind Tier: Ein gut durchdachtes, aber nicht minder leidenschaftliches Plädoyer für die Sprengung der Speziesgrenze. Obgleich mir persönlich nicht genug Abstand vom Anthropozentrismus genommen wird, empfehle ich diese Abhandlung jedem und jeder weiter, die oder der sich neue Perspektiven im Hinblick auf unsere Mitlebewesen auf diesem Planeten eröffnen lassen möchte.
Wir erleben auf nahezu jeder Seite neue Überraschungen, sehen ungeahnte Verbindungen und reflektieren fortwährend uns und unsere Rolle auf diesem Planeten. Und das ist genauso das, was ein gutes Buch (unabhängig von seinen Schwächen auszeichnet): Es regt zum Denken an. Es verändert unsere Weltsicht. Es öffnet eine weitere, bisher verschlossene Tür.
Wir sind Tier – dieses Buch mit dem (noch) unerhörten Titel hat im Endeffekt genau das geleistet, was ich mir von ihm erhofft habe: Es hat mich als menschliches, reflektierendes und denkendes Individuum ein Stückchen weitergebracht.
Falls ihr nun neugierig geworden seid, könnt ihr euch mithilfe dieser Leseprobe eine Vorstellung des Werkes verschaffen: Wir sind Tier. Was wir von den Tieren für unsere Gesundheit lernen können.
Und weil ich durch dieses Buch viel über mich selbst und unsere tierischen Mitlebewesen auf diesem Planeten gelernt habe und mir ein Stück weit neue Türen geöffnet worden sind, reiche ich diese Rezension für das aktuell auf diesem Blog stattfindende Blog-Event “Bücher, die bewegen” ein.
* Für diese Rezension wurde mir ein Exemplar vom KNAUS-Verlag zur Verfügung gestellt. Ich bedanke mich herzlich! Die Wertung hat dies allerdings in keiner Form beeinflusst.
[…] wir eigentlich doch gar nicht so verschieden vom Tier sind, erfährst du in diesem Buch. Unbedingt […]
[…] selbst habe euch eine Rezension zu „Wir sind Tier“ mitgebracht. Eines der besten Bücher, die ich in der letzten Zeit unter die Augen bekommen habe, […]
Danke für die großartige Vorstellung, die mich gleich dazu veranlasst hat mir das Buch in der Bibliothek zu reservieren. Ich kann den Montag kaum noch erwarten.
Wie schön, dass dir die Vorstellung gefallen hat und du neugierig auf das Buch geworden bist! Ich bin gespannt, wie du es findest. 🙂
Liebe Grüße und viel Spaß beim Lesen!
Jenni
Danke Jenny für die ausführliche Rezension. Da ich nun seit 55 Jahren fast ständig mit Tieren zusammen gelebt habe, in den letzten 17 auf dem Hof natürlich intensiver, habe ich in dieser Richtung selber viel beobachten können und bin auch immer wieder überrascht, wie viele Parallelen es gibt, oder besser gesagt, wie sehr wie doch Eins sind. ich werde das Buch mal auf meine Liste setzen.
Liebe Grüße Marlies
Hallo Marlies!
Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, diese Rezension zu schreiben, weil ich unbedingt die vielfältigen Eindrücke, die dieses Buch in mir hinterlassen hat, niederschreiben wollte. Schön, dass der Artikel dir gefällt und dich das Buch interessiert.
Ich kann nur immer wieder beneiden, über wie viel Erfahrung du verfügst – da komme ich mir regelmäßig etwas unwissend und hundewelpenartig vor. 😉
Aber ich finde es toll, dass du die Gelegenheit hast, die Parallelen zwischen Mensch und Tier (müssten wir die Unterscheidung eigentlich nicht bald abschaffen oder zumindest weniger strikt machen?) in der Praxis und gewissermaßen “live” zu erleben. Das ist leider nicht vielen Menschen vergönnt – was wahrscheinlich auch die zunehmende Entfremdung vom Tier und zu anderem Leben überhaupt zur Folge hat.
Liebe Grüße
Jenni
Mein Alter bringt ja nun mal als positiven Effekt einige Erfahrung mit sich, und die Tiere sind mir schon als kleines Kind ans Herz gewachsen. Und ich beobachte sie noch heute gerne und neugierig, es gibt immer wieder Erstaunliches . Für mich ist ein Leben ohne Tiere gar nicht denkbar, sie geben mir so viel.
Liebe Grüße Marlies
Ja, das stimmt, das liegt wohl im Lauf der Dinge.
Ich finde es schön, dass du so natur- und tierverbunden bist. Ich bin auch von klein auf mit Tieren aufgewachsen – allerdings mehr in der typischen Haustier-Manier. Doch ich glaube, bereits dort wurde ich sensibilisiert, dass es sich um wundervolle Wesen handelt. 🙂
Liebe Grüße zurück!
Jenni
Ich denke auch, dass es viel aus macht, wenn man schon als Kind die Erfahrung sammelt, aber es geht auch anders. Mein Mann hat erst durch mich die Tiere kennen und lieben gelernt, aber auch er mag sie nicht mehr missen und ist von ihrem Wesen fasziniert.
Einen schönen Abend noch, Marlies
Hallo Jenni!
Gerade beim Durchlesen kam mir der Gedanke, dass – wenn sich der Mensch als Tier und somit als Teil der Schöpfung sieht – er umsichtiger mit unserer Umwelt umgehen würde und sich auch nicht mehr so abgetrennt davon, vielmehr als Teil der Natur sehen könnte. Vielleicht würde dadurch sogar die große innere Leere sich reduzieren, die so gerne mit noch mehr Konsum überdeckt wird…
lg
Maria
Hallo Maria!
Das sind unglaublich wertvolle Gedanken!
Du hast recht – bis zu diesem Schluss habe ich selbst noch gar nicht weitergedacht. Aber es leuchtet unmittelbar ein, wenn wir davon ausgehen, dass die Konsumsucht unserer Zeit auch eine Antwort auf die allgegenwärtige Vereinsamung und Entwurzelung auch von unseren biologischen Ursprüngen ist.
Wir sollten uns wirklich dringend von der anthropozentrischen Perspektive wegbewegen – das käme wahrscheinlich einer neuen Geburt gleich und wäre das beste für uns und alle anderen Lebewesen auf diesem Planeten.
Liebe Grüße
Jenni