Nachdem wir die ersten Tage unseres Jahresurlaubs ruhig und entspannt im Fischerdorf angegangen sind und tägliche Abstecher zum Meer gemacht sowie die Fülle der heimischen, frischen Lebensmittel auf dem Markt genossen haben (siehe den ersten Teil dieser kleinen Reihe), vergrößern wir bald unsere Kreise und reisen durch mehr oder wenige karge Landschaften, die früher zu Mesopotamien gehörten.

Sich dort für Ausflugsziele zu entscheiden, ist mit die schlimmste aller Aufgaben, weil es einfach viel zu viel zu sehen gibt. Wenn man sich nicht mit der Region beschäftigt hat, kann man sich das schwer vorstellen, aber hier sind nicht nur sämtliche Völker (Hetither, Römer, Griechen etc.) durchgezogen, haben ihre Spuren hinterlassen und materielle wie immaterielle Dinge mitgenommen. Man geht darüber hinaus davon aus, dass in dieser Region eine der Wiegen der Menschheit stehen könnte. (Dazu gleich mehr.)

Hier, hier, hier und hier habe ich übrigens schon einmal von den Abenteuern der letzten Jahre in der Region berichtet.

Reise zur antiken Stadt Olba

Weit, weit oben in den Bergen

Die antike Stadt Olba liegt auf über 1000 Metern in der Nähe des Tarsus-Gebirges und hat uns über zwei Stunden Anfahrt (und noch mehr Nerven in der Navigation) gekostet.

Man ist hier vollkommen von Google Maps abhängig – Straßenschilder gibt es nicht, warum auch? Die meisten Menschen, die hierherkommen, kennen die Gegend wie ihre Westentasche, da braucht es keine Schilder. Tourist*innen verirren sich selten hierher.

Und doch ist der erste Satz, den ich höre, als ich aus dem Auto gestiegen bin und das atemberaubende Aquädukt, das den Eingang der alten Stadt bildet, bestaune: Ey, Mama! Die Tür ist noch nicht richtig zu!

Ich brauche einen Moment, um Sprache und Ort in Einklang zu bringen und mich zu wundern, weshalb ich im abgelegensten Winkel der Türkei auf einmal alles mühelos verstehe.

Als die Konversation auf Deutsch weitergeht, fragen wir, woher unsere Mit-Tourist*innen kommen. Wien, natürlich. Wien. Die Welt ist wirklich ein Dorf.

Über die Stadt Olba

PRIESTERSTADT IN DEN BERGEN

Man findet nicht viel heraus, wenn man nach Informationen über Olba sucht. Die Stadt ist vermutlich im Hellenismus erbaut worden (was bedeuten kann: zwischen 300 v. Chr. und 30 v. Chr.) und war einige Jahrhunderte Zentrum einer Priesterdynastie. Davon zeugen zahlreiche Tempel, Monasterien und Sarkophage, die man beim Herumgehen noch sehr deutlich erkennen kann, genauso wie die Wohnhäuser. Es vermittelt ein merkwürdiges Gefühl, ein bisschen ist es so, als sei die Zeit für den Moment eingefroren worden und als könnte das Leben jeden Moment hier weitergehen.

Ein paar Kilometer weiter steht der Zeus-Tempel, das zentrale Heiligtum der Priesterschaft. Um ihn herum entwickelte sich mit steigendem Machteinfluss der Römer im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Zwillingsstadt Diokaisareia. Spätestens von dem Zeitpunkt an verlor die Priesterdynastie in Olba an Bedeutung und die Stadt ging in die Verwaltung der Römer über, bis sie schließlich im 7./8. Jahrhundert aufgegeben wurde.

Himmel und Hölle

Von alten Kapellen und Tropfsteinhöhlen

Unsere nächste Station auf dem Rückweg nach Hause sind die Himmel-und-Hölle-Höhlen (Cennet ve Cehennem) oder auch: die Korykischen Grotten.

Hierbei handelt es sich um zwei Karsttrichter, die durch einen unterirdisch verlaufenden Fluss entstanden sind. Von ihnen ist nur der Himmel begehbar – die Hölle ist zu steil und mit giftigen Dämpfen angereichert, durch die bereits einige Bergsteiger*innen umgekommen sein sollen.

Der Himmel also.

Schon hier fühlt es sich an, als würde man in die Hölle herabsteigen – rund 300 Stufen (von einer ganz fiesen, groben Architektur) muss man hinabgehen, bis man am Fuß der Höhle an eine alte Marienkirche aus dem 5. Jahrhundert gelangt.

Danach geht es noch weiter nach unten und ich glaube sofort, dass die Menschen früher gedacht haben: Hier steigt man in die Hölle hinab. Es ist dunkel, feucht, alles ist schwarz, man sieht die Hand vor den Augen nicht, hört aber das Plitschen von stetig herabfallenden Tropfen.

Die Stufen wieder hinaufzusteigen bei sendender Mittagshitze, es ist wahrlich kein Vergnügen. Schon beim Abstieg kommen uns schweißüberströmte Tourist*innen keuchend entgegen und ich habe schon jede Lust verloren, den Weg wieder nach oben anzutreten. Konsequenterweise warnen Schilder alte und herzkreislaufkranke Menschen davor, den Abstieg anzutreten – das geht doch sehr auf die Kondition.

Ich schnaufe wie eine Diesellok, als wir wieder oben angekommen sind und möchte mich am liebsten duschen und umziehen. Aber wir sind noch nicht fertig.

Kurz einen Schluck Wasser getrunken, geht es weiter zur Tropfsteinhöhle, die nur wenige Autominuten von hier entfernt ist (nicht einmal eine ganze, um genau zu sein).

Asthma Cave heißt die Höhle auf Englisch übersetzt, Astim Mağarası auf Türkisch. Die Luftfeuchtigkeit ist enorm hoch, die Wendeltreppe geht steil hinab, bietet nur einer Person Platz und wackelt bedenklich.

Ich bin schon total geschafft vom Tag, mobilisiere aber trotzdem irgendwie die restlichen Energiereserven und staune und schaue und atme die millionenjahrealte Umgebung ein, wohl wissend, dass ich so schnell nicht wieder herkommen werde.

Şanlıurfa

Eine sehr alte Stadt mit viel Geschichte

Wir haben uns kaum ausgeruht von unserer langen Wanderung durch Olba und dem Trip über verschlungene Straßen und durch abgelegene Dörfer, da machen wir uns am nächsten Tag schon wieder auf zur nächsten Sehenswürdigkeit:

Die Stadt Şanlıurfa ist heute die neuntgrößte Stadt der Türkei und wird auch kurz Urfa genannt. Wahrscheinlich geht ihre Geschichte bis über 2000 Jahre zurück, erste Funde lassen sich auf vor knapp 10.000 Jahren datieren.

Sie bietet daher eine Vielzahl an Sehenswürdigkeiten, darunter spannende Museen, eine Burg (Burgen gibt es in der Gegend generell sehr viele), die historische Altstadt und kleinere und größere Überreste von den Völkern, die hier durchgezogen sind.

Auch in Urfa wissen wir nicht, wo wir anfangen sollen – nur, dass die Zeit nicht reichen wird, um alles mit gebührendem Respekt anzuschauen. Da wir aber auch kein Travel-Fastfood haben möchten, grenzen wir unsere Aktivitäten stark ein und beschließen, in den darauffolgenden Jahren wiederzukommen.

Unsere erste Station ist Balikli Göl, ein im Islam sehr heiliger Ort.

Balıklı Göl

ABRAHAMS FISCHTEICH

Balıklı Göl ist eine prachtvolle Anlage, wie man sie sonst nur aus Filmen und träumerischen (undifferenzierten) Beschreibungen früher Orientreisenden kennt. Tatsächlich wird sie nicht nur wegen ihrer religiösen Bedeutung geschätzt, sondern auch ganz weltlich für Musikvideos überregional bekannter Pop-Stars als Kulisse genutzt. Jede*r hier kennt die Geschichte, die sich um den Teich mit den großen Karpfen darin rankt:

Nach islamischem Glauben wollte König Nemrud (Nimrod) den Propheten Ibrahim (Abraham) auf dem Scheiterhaufen verbrennen, da dieser die alten Götter nicht anerkennen wollte. Im Koran heißt es: “Verbrennt ihn und verteidigt eure Götter, falls ihr etwas tun wollt.” (21:68) und “Wir sprachen: Oh Feuer, sei kühl und unschädlich für Abraham.” (21:69)

Seit hunderten von Jahren glauben die Menschen in Urfa und die Pilger*innen, das Gott das Feuer in Wasser und das brennende Holz in Karpfen verwandelt habe, um Abraham zu retten. Die Karpfen gelten als heilig und dürfen nicht gegessen werden. Am Rande des Teiches wird Futter verkauft und es gilt fast als obligatorisch, dass man sein Schälchen an die Fische spenden muss.

Göbekli Tepe

Der wahrscheinlich älteste Kultort der Menschheit

Aber eigentlich sind wir nach Urfa gefahren, weil wir unbedingt, unbedingt, unbedingt Göbekli Tepe sehen wollen.

Zum ersten Mal haben über eine ZDF-Dokumentation (kurz vor Reiseantritt) von diesem Ort gehört und waren sofort Feuer und Flamme.

(Random side note: Früher wollte ich unbedingt Archäologie studieren.)

Göbekli Tepe (= bauchiger Hügel) ist eine wahrscheinlich über 12.000 Jahre alte Anlage für kultische Handlungen – und damit die älteste der Welt.

7000 Jahre vor den ägyptischen Pyramiden wurden an diesem Ort religiöse Handlungen vollzogen, Stämme aus dem Umkreis zusammengerufen, Ehen geschmiedet, Bande verfestigt.

Das Areal ist rund 12 Fußballfelder groß und beinhaltet ungefähr 20 Kultstätten, von denen allerdings gerade einmal 6 halbwegs freigelegt sind.

Das müssen wir sehen.

Man stellt sich sowas dann doch ein wenig spektakulärer vor, als die Realität dann vielleicht ist – oder von einem Podest ausschaut, von dem aus man nicht erkennen kann, dass die T-förmigen Säulen über 5 Meter groß sind und nicht nur 1-Meter-irgendwas.

Mich fasziniert die Präzision der Tierdarstellungen (eine ist sogar als Figur angebracht) genauso wie der Ort als Ganzes. Es elektrisiert mich, was hier an Geschichte ganz greifbar vor meiner Nase liegt und wie hier inmitten der Einöde Menschen zusammenkamen, um etwas Größeres zu schaffen.

Auch die Wissenschaft ist nachvollziehbarerweise ganz aus dem Häuschen und hat neben der Tatsache, dass es sich historisch gesehen um den ältesten aller menschlichen Kultorte handeln könnte, auch gleich eine neue Theorie aufgestellt, die alles vom Kopf auf die Füße und umgekehrt stellt:

Es könnte sein – so die These -, dass wir falsch lagen mit der Anname, die Menschen wären im Laufe der Evolution erst sesshaft geworden und hätten dann irgendwann angefangen, Götter anzubeten, auf dass sie ihnen bessere Ernte verschaffen mögen.

Es könnte genau umgekehrt sein: Erst kam der Götterkult – und aus der Notwendigkeit, dass man dann an einen kultischen Ort gebunden war, entstand die Sesshaftigkeit und mit ihr Ackerbau und Viehzucht.

Die Funde bei Göbekli Tepe legen genau diesen Schluss nahe.

Beseelt und ein bisschen wackelig auf den Beinen umrunde ich die Anlage immer wieder, mache aus allen erdenklichen Perspektiven 500.000 Bilder und weiß doch ganz genau: Diesen Ort muss ich mit jeder Pore inhalieren, Fotos reichen nicht und genau das mache ich, bevor wir mit sanftem Zwang aufbrechen gen Zuhause.

Aber vorher schauen wir noch kurz in der Altstadt von Urfa vorbei und beobachten Schwiegermama-in-spe, wie sie auf Schärfste mit einem der unzähligen ansässigen Gemüsehändler um getrocknete Paprika, Aubergine und Zucchini feilscht.

Slow Travel + Family Time

Der Rest des Urlaubs gehört dem Müßiggang

Nach dieser sehr aktivierenden und gleichzeitig auslaugenden Reise gehört der Rest des Urlaubs der Familie (wir waren bisher viel zu wenig auf Besuch und ändern das jetzt), Freund*innen der Familie, die irgendwie auch Familie sind, weil alle in den Dörfern irgendwie dazugehören und angeheiratet sind und passenderweise dem Besuch einer Dorfhochzeit weit draußen im Tarsus.

Wir spazieren durch Olivenhaine (ein Onkel produziert sein eigenes Olivenöl) und diskutieren über Pestizide. Wir sitzen unter Maulbeerbäumen (ich esse das erste Mal frische Maulbeeren direkt vom Zweig) und unterhalten uns übers Heiraten und die Dorfgemeinschaft. Ich sitze als Dunkleblondling dazwischen und werde mal bewundert (scheinbar gelten helle Augen und blonde Haare als Schönheitsideal, wobei ich gar nicht so sehr blond bin, aber gut), mal schief angesehen (meist von den älteren Herrschaften).

Wir bekommen Melonen geschenkt (auch von einem Onkel) und ich beobachte einen zehnjährigen Neffen, der an einem Tee-Abend in der Stadt zum ersten Mal ein richtiges Eis bekommt und es langsam und andächtig isst.

Ich sehe gebotoxte Gesichter dort, wo ich sie am allerwenigsten erwartet hätte (in einem abgelegenen Bergdorf) und tätowierte Fotografen am selben Ort. Ich muss meine Vorurteile eingestehen und lasse mehr Differenzierung zu als noch vor ein paar Jahren, das ist ein Lernprozess, soll noch einer sagen, Reisen bilde nicht.

Ich werde aufgefordert, nun doch endlich Türkisch zu lernen, man wolle sich schließlich anständig mit mir unterhalten. Ich sehe, in dieser Familie herrscht das Matriarchat, unangefochten, es ist herrlich, das zu spüren.

Ich sehe aber auch: den Dreck, das Plastik, die Nachlässigkeit, alles wegzuwerfen, wo man geht und steht und ich komme an die Grenzen meiner Erklärungsmöglichkeiten und Empathie. Ich sehe das Blut nach dem Opferfest, tote Kadaver, für die man sich nicht einmal Mühe gemacht hat, sie in die Mülltonne an der Straße zu werfen, sondern am Gehweg liegenließ.

Ich sehe die Hoffnung, mit der vor allem die Jungen mich ansehen, ich komme aus einer Welt voller Möglichkeiten und kann ihre Sehnsucht manchmal fast mit den Händen greifen.

Und ich atme das Meer und wir trocknen Tomaten und knuddeln Hundebabys aus der Ferne.

Ich sehe, alles ist nicht einfach und nichts passt in eine Schablone, ich höre Politisches, Menschen mit Leidenschaft, die diskutieren, als gäbe es kein Morgen, ich sehe gestern und heute und alles irgendwo dazwischen, und ich kehre mit einer bunteren Palette zurück als ich gekommen bin.

Bis zum nächsten Mal.

JENNI MARR

Wanderin im Geiste, mit der Nase im nächsten Buch, nie so ganz zuhause und doch immer da.

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